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Veto im Kanzleramt

Ehrenamtliche Flüchtlingshelfer trugen ihre Enttäuschung in Berlin vor und bereiten nun die Gründung einer bundesweiten Gewerkschaft vor

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Dienstag kam es zu einer ungewöhnlichen Begegnung im Bundeskanzleramt in Berlin. Zwei Vertreter der vielköpfigen, aber in der Regel anonymen Gruppe der Flüchtlingshelfer in Deutschland waren zum Gespräch erschienen. Eine anhaltend große Zahl von Menschen bestätigt seit 2015 in täglicher Kleinarbeit, dass »Flüchtlingskanzlerin« Angela Merkel mit ihrem Satz »Wir schaffen das« Recht hatte, auch wenn sie ihn inzwischen womöglich bitter bereut. Zwei von ihnen brachten am Dienstag nunmehr die wachsende Unzufriedenheit der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer zur Sprache, die inzwischen auch zu einer bundesweiten Vernetzung der vielen Engagierten, Initiativen und Vereine führt. Die Helfer und ihre Schützlinge sehen sich in den Behörden immer wieder mit Integrationshindernissen konfrontiert, wo sie doch Verständnis und Unterstützung erwarten sollten.

Staatsminister Helge Braun, Vertreter von Kanzleramtschef Peter Altmaier bei der Flüchtlingskoordination, zeigte sich durchaus aufgeschlossen gegenüber den Argumenten von Raffael Sonnenschein, Initiator der bundesweiten Vernetzung der Flüchtlingshelfer. Er habe »in der Zentrale der Macht für mehr Menschlichkeit« geworben, schilderte dieser anschließend. Sonnenschein will eine bundesweite Gewerkschaft ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer formieren. Dass ihre Arbeit ehrenamtlich, also kostenlos verrichtet wird, verringert nicht das Bedürfnis nach fairen Bedingungen und den Wunsch nach Mitsprache bei ihrer Gestaltung. Eine Gewerkschaft scheint Sonnenschein dafür deshalb gerade richtig.

Er hat auch schon einen Namen: VETO heißt das Bündnis, weil genau dies das Anliegen der Beteiligten ist. Es geht um ihren Widerspruch zu jahrelangen Duldungen unter zermürbenden Lebensbedingungen, um ihren Einsatz gegen Arbeits- und Ausbildungshindernisse, mit denen Flüchtlinge trotz einer im letzten Jahr liberalisierten Gesetzeslage in der Praxis ständig konfrontiert sind. Die Helfer wollen Mindeststandards für Integration, staatliche Anreize für Vereine und Betriebe, die besondere Integrationsleistungen erbringen, und sie fordern eine Beschwerde- und Ansprechstelle auf Bundesebene, an die sich ehrenamtliche Flüchtlingshelfer mit ihren speziellen Anliegen und Problemen wenden können.

Die Vorstellungen der Helfer gehen durchaus über ihre täglichen Aufgaben hinaus, berühren auch bundespolitische Entscheidungen und Gesetze. Durch ihre Arbeit haben sie einen Einblick in die Ausländer- und Asylpolitik gewonnen. So wollen sie ein Abschiebeverbot in Kriegsgebiete erreichen, Flüchtlingskindern soll eine uneingeschränkte Zusammenführung mit ihren Eltern ermöglicht werden, humanitäre Visa für Kinder in Flüchtlingslagern außerhalb Deutschlands sind eine weitere Vorstellung, die die Helfer formulieren.

Das Bündnis hat seine Vorgeschichte in Bayern, wo im Oktober des vergangenen Jahres Flüchtlingshelfer mit einem ganztägigen Streik bundesweit auf sich aufmerksam machten - initiiert von Raffael Sonnenschein und dem Verein Integrationshilfe Lläuft in Lansdsberg am Lech. Sie wollten ihre Kritik an der bayerischen Landespolitik deutlich machen, sehen sich zu »Erfüllungsgehilfen der Abschiebepolitik« degradiert, wie sie in ihrem Forderungskatalog an die Politik beklagen. Ein Gespräch in der Münchner Staatskanzlei wollten sie mit ihrem Streik erzwingen, und dies gelang auch, das Gespräch kam nach langer Wartezeit im Februar dieses Jahres zustande.

Mit dem bundesweiten Bündnis für mehr Menschlichkeit in der Flüchtlingspolitik versucht VETO die fortgeschrittene Resignation und Frustration unter den deutschen Flüchtlingshelfern zu stoppen, wie Raffael Sonnenschein formuliert. VETO wolle die Regierung zu Zugeständnissen bewegen, damit die Wut unter den Ehrenamtlichen nicht »unausweichlich« zu bundesweiten Streiks und Behördenboykotten führt. Den 18-Punkte-Katalog der Helfer zu prüfen, versprachen ihre Gesprächspartner im Kanzleramt am Dienstag immerhin.

Unabhängig vom Ergebnis dieser Prüfung, über die sich Sonnenschein keine Illusionen macht, will der Initiator das Bündnis vorantreiben. Zahlreiche Helferkreise und Initiativen hätten sich dem Aufruf bereits angeschlossen und seien der Gewerkschaft beigetreten, sagt er. Insgesamt würden schon rund 2000 Mitglieder vertreten. Sonnenscheins Ziel ist es, eine Vertretung für Zehntausende zu schaffen. Dann werde das Bündnis auch langfristig wirken und lebensfähig sein. Auf einem bundesweiten Kongress soll im Sommer die Konstituierung erfolgen, werden die politischen Ziele formuliert.

Kontakt: unserveto@gmx.de

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