Gesucht: Die Formel für eine soziale Schule

Regierung und Opposition diskutieren, was gerechte Bildungspolitik ist

  • Ellen Wesemüller
  • Lesedauer: 4 Min.

Es kommt wohl eher selten vor, dass sich FDP, CDU und AfD ein Ziel auf die Fahnen schreiben und noch zumal dieses: die soziale Gerechtigkeit. »Liebe Sozialdemokraten jedweder Couleur«, begrüßte Paul Fresdorf, FDP-Mitglied im Abgeordnetenhaus, seine Kollegen gleich zu Beginn der Aktuellen Stunde provokant: »Jetzt erkläre ich Ihnen mal Ihr Weltbild.« In seinem Antrag mit dem Titel »Bildungsspiegel an der Wand - welches ist das schlechteste Bildungsland?« zitierte er die Anfang des Monats veröffentlichte »Chancenspiegel«-Studie der Bertelsmann-Stiftung, wonach das Elternhaus bei der Bildung immer noch eine Rolle spiele. »Heute müssen wir Ihnen erklären, was sozial ist.«

Auch die CDU machte sich diese Argumentation zu eigen, ebenfalls mit Verweis auf eine Studie: die Berlin-Studie, die Mitte des Monats erschienen war und die Abschaffung der Haupt- und Realschulen bewertet hatte. Nach ihr haben zwar mehr Schüler einen Abschluss erreicht, das Leistungsniveau jedoch blieb gleich oder sank sogar. Hildegard Bentele, bildungspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, reüssierte: »Was gibt es unsozialeres als Abschlüsse, die keine Zugänge mehr garantieren?« Reiche Eltern würden Mittel und Wege finden, ihre Kinder auf bessere Schulen und Hochschulen zu schicken. »Den Schwachen schadet das mehr. Diese soziale Spaltung können Sie als Sozialdemokraten nicht wollen.«

Auch die AfD versuchte sich in der Analyse von Studien, nannte jedoch nur solche, in denen Berlin gar nicht mit anderen Bundesländern verglichen wird - namentlich die Vergleichsarbeiten 3 (VERA 3) und die PISA-Studie. Auch forderte keine »Lehrergewerkschaft«, das Berliner Abitur nicht mehr anzuerkennen, wie die Partei behauptete, sondern der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, einer Lehrerorganisation, die sich explizit außerhalb von Gewerkschaften sieht. Wie ernst es der AfD mit dem Sozialen war, machte dann auch Stefan Franz Kerker deutlich: »Alle Kinder müssen hier integriert werden, auch wenn sie nur bis zu ihrer Abschiebung hier bleiben.«

Die FDP forderte die Überprüfung und implizit die Abschaffung des »Bonus-Programms«, mit dem die Bildungschancen in belasteten Sozialräumen verbessert werden sollen. Hinter vorgehaltener Hand kritisieren das Programm auch Politiker von Rot-Rot-Grün, es gilt als wenig effektiv. Doch statt zum Beispiel mehr Sozialarbeiter an Schulen zu fordern, wie die LINKE, befürchtet die FDP, dass die Gymnasien »abgehängt« werden, weil sie beim Schulneubau gegenüber Gemeinschaftsschulen benachteiligt werden. Die CDU forderte von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), die Bentele eine »Märchenerzählerin« nannte, qualitativ hochwertige Bildung zu garantieren. Die Vergleichsarbeiten sollten weiter in Klasse 3 statt - wie geplant - in Klasse 4 geschrieben werden, die Binnendifferenzierung innerhalb von Gymnasien, die Scheeres am Montag angekündigt hatte, solle unterbleiben. Die AfD forderte die Wiederbelebung der Sonderschule.

»Ich habe nicht einen einzigen revolutionären Vorschlag von Ihnen gehört«, sagte Regina Kittler, bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion. In Berlin seien 250 000 Kinder und Jugendliche arm. Diese erreichten einen geringeren Bildungsabschluss. »Das ist beschämend«. Doch weder befänden sich die Gymnasien in Gefahr, wie die Opposition befürcht. »Sie müssen sich auch fragen: Wird das Gymnasium diese Probleme lösen?« Kittler bezog sich ebenfalls auf den »Chancenspiegel«, nachdem in Berlin 44,5 Prozent statt wie bundesweit 34,1 Prozent die Hochschulreife erreichten. »Die Leistungen müssen verbessert werden«, gab Kittler zu. »Doch auch hier haben wir eine Antwort, die wissenschaftlich belegt ist und die Ihnen nicht gefallen wird: die Gemeinschaftsschule.«

»Sie haben kein Konzept, wie wir die rote Laterne abgeben können«, sagte auch die neue bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Marianne Burkert-Eulitz, in Richtung Opposition. Der Verweis auf Gymnasien genüge nicht, denn auch diese hätten Probleme, wie die Berlin-Studie zeige. Tatsächlich hatte die Studie kritisch angemerkt, dass die Leistungen der Neuntklässer, außer im Fach Englisch, an Gymnasien stark rückläufig seien. Da diese Schulform von der Strukturreform ausgeschlossen gewesen war, seien diese Leistungsrückstände nicht auf die Abschaffung der Real- und Hauptschulen zurückzuführen, so die Wissenschaftler.

Scheeres konterte die Angriffe der Opposition scharf: »Frau Bentele, ich bin froh, dass ich mich mit Ihrem antiquierten Bildungsverständnis nicht mehr auseinander setzen muss«, sagte sie. In der kommenden Legislatur sehe sie zwei Schwerpunkte: eine übergreifende Qualitätsoffensive sowie Schulneubau und -sanierung. Besonders die Abbrecherquote von 7,1 Prozent hob sie hervor: »Hier haben wir noch etwas zu tun.«

Jährlich sollen zudem 2500 Lehrer ausgebildet werden. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), ebenfalls Wissenschaftssenator, setze sich zur Zeit in den Verhandlungen der Hochschulrahmenverträge dafür ein, dass die Universitäten ihre Ausbildungsplatzkapazitäten massiv ausweiten. Die Ausbildung sei jetzt »modern«, da nicht mehr in Grundschullehramt und weiterführende Schulen getrennt werde. »Sie wollten die Trennung immer aufrechterhalten«, sagte Scheeres in Richtung Bentele.

Außerdem trat sie Einwänden der FDP entgegen, die Bezirke hätten zu wenig Personal, um Neubau- und Sanierungsmaßnahmen umzusetzen. Pro Bezirk seien acht zusätzliche Stellen geschaffen worden. Die Finanzverwaltung sei mit den Bezirken im Gespräch, um einen Personalpool zu schaffen: »Leider wird der Vorschlag noch nicht angenommen.« Für den Neubau und die Sanierung stellt die Bildungsverwaltung 5,5 Milliarden Euro bereit. »Noch nie hat jemand so viel Geld in die Hand genommen«, sagte Scheeres.

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