nd-aktuell.de / 25.03.2017 / Politik / Seite 4

»Die Erfüllung einer europäischen Aufgabe«

Vereinigte Staaten und demokratisch-sozialistische Sammlung: die fast vergessene Vorgeschichte eines Europa von unten

Tom Strohschneider

Parteien und Gewerkschaften, so urteilte einmal der Historiker Willy Buschak, »zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein schlechtes historisches Gedächtnis haben«. Das mag überraschend klingen, gehören Verweise auf die eigen Tradition doch zu deren Selbstverständnis. In Sachen Europa, und darauf wollte Buschak in seinem Buch »Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel« (Klartext-Verlag 2014) hinaus, sei das jedoch bei der gesellschaftlichen Linken anders; schon in den 1960er Jahren habe diese »so gut wie gar nichts mehr von den zahlreichen Vordenkern der europäischen Integration aus der Arbeiterbewegung« gewusst.

60 Jahre nach den Römischen Verträgen, mit denen die offizielle Geschichte der EG/EU beginnt, sollte es sinnvoll sein, an diese linken Traditionen zu erinnern. »Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel« - das war nicht nur eine Parole im Heidelberger Programm der SPD von 1925, sondern sie tauchte auch in vielen Reden europäischer Sozialdemokraten und Gewerkschafter der Zwischenkriegszeit auf.

Buschaks Kollege Reiner Tosstorff spricht in dem Zusammenhang von einer Europakampagne »von unten«. Wortführer der Arbeiterbewegung »traten entschieden für eine Überwindung der nationalstaatlichen Begrenzungen ein«. Und das nicht nur programmatisch, sondern durchaus auch praktisch. Dass diese Vorgeschichte europäischer Einigung heute eher selten zur Kenntnis genommen wird, dürfte damit zu tun haben, dass die EU dann etwas anderes wurde - ein »Elitenprojekt«. Dies trifft auch für jene Vorläufer zu, die in der offiziellen Geschichtsschreibung mehr Raum erhalten, etwa Aristide Briands Europa-Plan von 1930 oder die Pan-Europäische Bewegung von Richard N. von Coudenhove-Kalergi.

Doch es gab noch eine andere Geschichte: Ob in den Ausgaben der deutschen »Betriebsräte-Zeitschrift« der 1920er Jahre oder vor dem Hintergrund eines kontinentweit erfolgreichen Buches des niederländischen Linkssozialisten Edo Fimmen - eine »europäische Öffentlichkeit« von unten existierte bereits, als die heute aktuelle Klage über deren Fehlen noch gar nicht erfunden war. Freilich standen sich seinerzeit sehr unterschiedliche Konzepte jener »Vereinigten Staaten von Europa« gegenüber: von sozialdemokratischen Überlegungen bis zu solchen, die eine ökonomische Konkurrenzfähigkeit gegenüber den USA verfolgten, von eher gewerkschaftlichen bis zu kommunistisch-revolutionären Denktraditionen.

Schon unmittelbar nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges stritten Leo Trotzki und Lenin darüber, ob »die Losung der Vereinigten Staaten von Europa eine falsche Losung ist«. Stalin strich die Parole 1928 dann aus Nikolai Bucharins Programmentwurf für die Kommunistische Internationale.

In der antistalinistischen Linken jener Zeit bemühte sich Willi Münzenberg mit der 1939 gegründeten Deutsch-Französischen Union um »die Gründung eines politisch geeinten und föderativ gegliederten Europa«. Erinnert sei auch an den Antifaschisten und Linkskatholiken Werner Thormann, der in Münzenbergs 1938 gegründeter Zeitschrift »Die Zukunft« proklamierte: »Die Aufgabe der demokratisch-sozialistischen Sammlung liegt vor uns, nicht hinter uns. Und wir müssen uns von vorn herein darüber klar sein, dass es sich um die Erfüllung einer europäischen, nicht einer spezifisch deutschen Aufgabe handelt.« Die Idee, ein »neues Europa« von links zu begründen, lebte im »Manifest von Ventotene« weiter, das 1941 von den italienischen Antifaschisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni verfasst wurde. Und das sind nur einige Beispiele von vielen.

Man mag darüber streiten, was damals von links alles in die Idee »Europa« hineinprojiziert wurde, man sollte aber für die gegenwärtigen Debatten über fortschrittliche Alternativen diese Vergangenheit nicht dem Vergessen überlassen.