Ein reiches Leben

Ingeborg Rapoport

Gerade erst ist ein wunderschönes Kinderbuch aus ihrer Feder erschienen - über ein weinendes Lesebuch: »Eselsohren« (»nd« vom 16.3.). Geschrieben im 105. Lebensjahr! Bis zuletzt war Ingeborg Rapoport geistig rege, verfolgte aufmerksam das Zeitgeschehen, auch wenn schwächelnde Sehstärke es nicht mehr zuließ, ihre Zeitung, das »neue deutschland«, zu studieren oder auch fernzusehen. Eine Nachbarin las ihr hin und wieder aus der Presse vor. Das Rundfunkgerät versorgte sie mit Nachrichten aus der turbulenten Welt. Sie war stets bestens informiert. Und ihre Kinder und Enkel versorgten die lebenslang Lesehungrige nunmehr mit Hörbüchern.

Ingeborg Rapoport freute sich über jeden Besuch. Bei meinem letzten versprach ich, öfter bei ihr in Pankow zum Plausch vorbeizuschauen, und sei’s nur, um sich an »Mitja« zu erinnern. (Journalisten sind aber offenbar ungewollt treulose Seelen.) Damals, vor zwei Jahren, hat sie den ihr von den Nazis vorenthaltenen Doktor der Medizin nachträglich verliehen bekommen. Die international renommierte Professorin für Pädiatrie brauchte diesen (weiteren) Titel nicht unbedingt, aber gerade jener war ihr wichtig: »im Namen all der Opfer des Faschismus«. Ingeborg Rapoport hat sich sogar noch einem richtigen Rigorosum unterzogen: »Es war die Prüfung meines Lebens. Ich wollte mich nicht blamieren«, gestand mir die damals 102-Jährige.

Ingeborg Syllm, wie die am 2. September 1912 in Kamerun als Tochter eines Kaufmanns und einer Pianistin Geborene mit Mädchennamen hieß, hatte 1937 nach bestandenem Staatsexamen ihre Dissertation über Diphtherie an der Hamburger Universität eingereicht. Zur Verteidigung wurde sie nicht zugelassen, weil ihre Mutter Jüdin war. Kurz vor der Pogromnacht 1938 in die USA emigriert, arbeitete sie zunächst am Johns Hopkins Children’s Hospital in Baltimore und hernach am Kinderkrankenhaus in Cincinnati. Dort lernte sie den in Galizien geborenen und in Wien aufgewachsenen Biochemiker Samuel »Mitja« Rapoport kennen, der 1943 eine Entdeckung machte, die Hunderttausende Soldatenleben retten sollte (das ACD-Medium, das Blutkonserven haltbarer machte). Mit dem Kommunisten, der nach dem Krieg ins Visier der McCarthy-Jäger geriet, floh sie nach Österreich und übersiedelte 1952 in die DDR. Zunächst Ärztin im Hufeland-Krankenhaus und dann mit ihrem Mann an der Humboldt-Universität in Berlin tätig, wurde ab 1959 die Kinderklinik der Charité ihr Forschungs- und Arbeitsmittelpunkt. Sie baute dort ein weltweit berühmtes Perinatalzentrum auf. Dank der Begründerin der Neonatologie (Frühgeborenenmedizin) gelang es, die Säuglingssterblichkeit in unserer Hemisphäre drastisch zu senken.

Am 23. März vollendete sich ein reiches, bewegtes und glückliches Leben.

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