Die Krux mit der Notbremse

Soziologieprofessor und Bestseller-Autor Jean Ziegler über Stärken und Schwächen der UNO

  • Lesedauer: 9 Min.

Herr Ziegler, in Ihrem neuen Buch schreiben Sie, die UNO sei »blass und kraftlos«. Wie konnte es dazu kommen, wurde sie doch 1945 voller Hoffnung gegründet?
Zunächst sei mir ein historischer Exkurs gestattet: Im August 1941 trafen sich auf dem Schlachtschiff »USS Augusta« vor der Küste von Neufundland und inmitten eines heftigen Sturms US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill. In ihrer Atlantik-Charta erschien das Wort »Vereinte Nationen« erstmals. Ein schöner Name. Das war vor Stalingrad und der Schlacht um El Alamein. Noch kein Hoffnungsschimmer am Horizont. Die Nazi-Monster beherrschten den europäischen Kontinent. Und die zwei visionären Staatsmänner sagten: »Wenn wir den Faschismus besiegt haben, schaffen wir eine neue Weltordnung.« Das geschah dann vier Jahre später in San Francisco.

Zu den Gründungsdokumenten der UNO gehört auch die Moskauer Deklaration von 1943.
Und weitere. Die drei Säulen, auf denen die neue Weltordnung ruhen sollte, waren: Erstens, das Elend muss aus der Welt verschwinden - planetare soziale Gerechtigkeit. Zweitens, der Krieg muss aus der Welt verschwinden - das sollte ein System der kollektiven Sicherheit garantieren. Und drittens die Menschenrechte, verankert in der UN-Erklärung vom 10. Dezember 1948.

Jean Ziegler

Mit dem Soziologieprofessor Jean Ziegler, ehemaligen Abgeordneten im Schweizer Nationalrat, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und Berater des UN-Menschenrechtsrats, der am 19. April seinen 83. Geburtstag begeht und sich als Kommunist in der Tradition von Karl Marx und der Pariser Commune versteht, sprach Karlen Vesper.

Und alle Säulen sind brüchig?
So ist es. Soziale Gerechtigkeit ist nicht gewährleistet, noch nicht einmal das Recht auf Nahrung. Der Skandal unserer Zeit ist das tägliche Massaker des Hungers. Eine kalte Normalität. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Fast eine Milliarde von den 7,3 Milliarden Menschen auf der Welt sind schwerst permanent unterernährt. Und die Zahlen steigen weiter an. Laut World Food Report können wir heute jedoch problemlos 12 Milliarden ernähren, fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Hunger ist Massenmord. Hinzu kommen die vielen Kriege. Und wie steht es um die Menschenrechte? Von den 193 UN-Mitgliedsstaaten praktizieren laut Amnesty International 67 systematisch Folter, darunter die USA.

Und die UNO schaut ohnmächtig zu.
Ich sage Ihnen, warum die UNO gelähmt ist - sei es in Syrien, in Darfur oder in Gaza usw. Wegen des Vetorechts. Auf der »USS Augusta« sagte Roosevelt: »Wir werden eine total demokratische Weltorganisation schaffen. Jeder Staat hat eine Stimme.« China mit 1,3 Milliarden Menschen eine Stimme, ebenso Vanuatu mit seinen 55 000 Einwohnern. Churchill meinte zu Roosevelt: »Das geht nicht. Hitler ist durch Wahlen an die Macht gelangt. Und hat dann sein Ermächtigungsgesetz im Reichstag durchgepeitscht. Es braucht eine Notbremse.« Diese Notbremse ist das Vetorecht. Die fünf Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die permanenten Mitglieder im 15-köpfigen Exekutivgremium, müssen stets einverstanden sein. Im Falle Syriens hat der russische Botschafter im Sicherheitsrat acht Mal sein Veto eingelegt - immer, wenn eine UNO-Intervention diskutiert wurde, seien es Blauhelme, seien es humanitäre Korridore, seien es Flugverbotszonen.

Aber US-Administrationen schlagen zu, ohne die UNO überhaupt zu konsultieren! Oder sie tischen ihr faustdicke Lügen auf.
Mehr noch: Im Ghetto von Gaza sind 1,8 Millionen Menschen auf 365 Quadratkilometern eingeschlossen, es mangelt an Medikamenten, es herrscht Hunger. Die UNO ist weder in den besetzten palästinensischen Gebieten noch in Gaza präsent. Das Veto der USA schützt die Kriegsverbrechen der Israelis. Im Fall von Darfur im Westsudan, wo seit 13 Jahren ein blutiger Bürgerkrieg tobt, gibt es keine UNO-Präsenz, weil China das Veto hält. Elf Prozent von Chinas importierten Erdöl kommen von dort.

Gibt es überhaupt noch Hoffnung?
Es gibt immer Hoffnung, mag sie noch so klein sein. Mein Buch trägt den Titel »Der schmale Grat der Hoffnung«. Als Kofi Annan nach zehn Jahren aus dem Amt schied, hinterließ er als sein Testament einen Reformplan für die UNO. In diesem steht, das Vetorecht darf nicht mehr angerufen werden, es ist nicht wirksam in Konflikten, in denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Diese sind akribisch im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs definiert.

Der Plan von Kofi Annan ist leider in eine Schublade gewandert, und dort immer weiter nach unten. Die Schubladen der UNO sind tief, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Nun aber, seit einigen Monaten, überlegen Expertengruppen, wie der Plan von Kofi Annan aus der Schublade geholt und aktualisiert werden kann. Denn der Syrien-Krieg, der Darfur-Krieg, das Martyrium des palästinensischen Volkes - das alles nimmt kein Ende ohne Intervention der UNO, ohne multilaterale Diplomatie. Die Kriegsparteien haben über Jahre hinweg ihre Unfähigkeit bewiesen, miteinander zu verhandeln. Nur die UNO kann die Konflikte lösen und Massaker stoppen. Mittlerweile leiden die Vetomächte selbst unter den Konflikten. Denn diese produzieren Terroristen, die in Paris, Nizza, Brüssel, Berlin, London, Moskau, St. Petersburg und Stockholm töten.

Einen Terroranschlag verhindert die perfekteste Überwachung nicht.
Die perfekteste Überwachung gibt es nicht. Der Terror bedroht uns alle. Es hängt alles von uns ab, vom Zorn der Zivilgesellschaft. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Das Grundgesetz gibt beispielsweise den deutschen Bürgerinnen und Bürgern alle Waffen in die Hand, um die Regierung, die nur eine Delegation auf Zeit des souveränen Volkes ist, zu zwingen, sich für den Kofi Annan-Plan einzusetzen. Das ist die Hoffnung.

Ich weiß nicht, mir fehlt der Glaube - allein ob der schäbigen Abschottungshaltung der Bundesregierung gegenüber Flüchtlingen und Wegdelegierung des Problems auf kleinere und ärmere Staaten wie Griechenland ...
Auch wenn ich Marxist bin, muss ich die Bundeskanzlerin Angela Merkel loben. Sie zeigte Herz, als sie anfangs sagte: »Was uns von den Flüchtlingen trennt, ist nur der Zufall der Geburt.« Ich war beeindruckt, wie im schwarzen, konservativen Bayern Familien spontan Flüchtlinge aufgenommen haben. Und nicht nur in Bayern, überall in Deutschland. Diese Gastfreundschaft, diese Solidarität ist exemplarisch, nicht zu vergleichen mit Frankreich, der Schweiz oder der Brüsseler Flüchtlingspolitik.

Gemeinhin wird zwischen politischen, Armuts-, Kriegs- und neuerdings auch Klimaflüchtlingen hierarchisiert. Ist das legitim?
Mit ihrer Weltflüchtlingskonvention von 1951 hat die UNO ein neues universelles Menschenrecht geschaffen, das Recht auf Asyl für alle, die aus religiösen, politischen oder rassistischen Gründen verfolgt werden. Was die ungarische und die slowakische Regierungen machen, verstößt gegen die UN-Konvention. Viktor Orbán lässt messerscharfen Stacheldraht ausrollen, wirft Frauen, Männer, Kinder ins Gefängnis, nur weil sie um Asyl bitten. Ebenso Miloš Zeman in Prag. Nicht weniger unfreundlich sind Polen, Rumänien und Bulgarien. Wenn Jean-Claude Juncker die Solidaritätszahlungen stoppen würde, käme Orbán zu Verstand und der Stacheldraht würde verschwinden. Aber sie alle sind Komplizen im Flüchtlingsdrama. Weil sie auf Abschreckung setzen und ihnen die Tausenden Menschen egal sind, die im Mittelmeer ertrinken.

Sind daran nicht zuvörderst die skrupellosen Schlepper schuld?
Die Schlepperbanden könnten morgen schon zerschlagen werden. Doch Europa lässt sie gewähren in der Illusion, dass sich das Unglück der Ertrunkenen herumspricht und dann weniger kommen. Wer täglich bombardiert wird oder Gefahr läuft, im Gefängnis zu verschwinden und gefoltert zu werden, wer nichts mehr zu essen hat, den hält nichts davon ab, in der Ferne sein Glück zu versuchen. Die europäische Flüchtlingspolitik ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Müsste die Flüchtlingskonvention von 1951 nicht erweitert werden?
Als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung habe ich dies schon 2005 in der Generalversammlung in New York und beim Hohen Flüchtlingskommissar in Genf vorgeschlagen. Ob man an Hunger stirbt oder von einer Granate zerfetzt wird, läuft nämlich auf dasselbe hinaus. Ich erhielt dann - an einem Sonntagabend - einen Anruf von Antonio Guterres, dem heutigen UN-Generalsekretär, damals Hoher Flüchtlingskommissar. Er hat mir gedankt und gesagt: »Bitte zieh’ diesen Antrag sofort zurück. Weißt du nicht, dass es Millionen Hungerflüchtlinge gibt?«

Gaben Sie sich damit zufrieden?
Ich insistierte, Hungerflüchtlinge bräuchten auch ein Schutzrecht. Er sagte: »Wenn du das tust, ruinierst du die Flüchtlingskonvention.«

Wieso das denn?
Wenn sie multinational neu verhandelt werde, bestünde angesichts des Erstarkens konservativer Kräfte in den maßgeblichen Staaten die Gefahr, dass die bestehenden Asylrechtsansprüche limitiert oder gar liquidiert werden. So Guterres. Die Situation hat sich seit 2005 nicht verbessert, im Gegenteil. Die rechten Kräfte sind noch einflussreicher geworden, denken wir etwa an den Front National in Frankreich, eine ganz schlimme protofaschistische rassistische Bewegung. Der Vater von Marine Le Pen war übrigens ein Folteroffizier im Algerienkrieg.

In Ihrem Buch setzen sie Menschen, die sich uneigennützig bei der Lösung von Konflikten oder Bewältigung von Katastrophen einsetzen, ein Denkmal, darunter einem tunesischen Biologen ...
Daly Belgasmi aus Sidi Bouzid, der Stadt, in der im Dezember 2010 der Arabische Frühling begann. Er war Chef des Büros des Welternährungsprogramms in Islamabad, als die USA in Afghanistan einfielen. Damals brach eine fürchterliche Hungersnot aus, weil die ganze Ökonomie des Landes wegen der Invasion durcheinander geriet. Daly organisierte sofort einen Hilfskonvoi und ist trotz Warnung der US-Militärs und auf die Gefahr hin, bombardiert zu werden, mit 18 Lkws über den Chaiber-Pass nach Dschalalabad gefahren. Ihm verdankten Tausende Afghanen ihre Rettung. Ein unglaublich mutiger Mensch. Und ein lustiger. Er wollte, dass ich ihn Skifahren lehre. Ich wünschte mir im Gegenzug, er möge mir das Kamelreiten beibringen. Er lernte innerhalb von drei Wochen Ski, ich kann bis heute kein Kamel reiten.

Weil sie der begabtere Lehrer sind?
Nein, ein Kamel ist wirklich schwer zu reiten. Ich möchte aber noch ergänzen: Die UNO kennt auch viele Erfolgsgeschichten. Ihr Welternährungsprogramm hat beispielsweise im letztes Jahr 91 Millionen Menschen in Flüchtlingslagern überall auf der Welt am Leben erhalten.

Und ein anderes Beispiel: Nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen ist, hat der damalige Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, ein hochgebildeter ägyptischer Jurist, 1993 eine zweite Menschenrechtskonferenz seit der Pariser von 1948 einberufen. Um nach der Eiszeit zwischen Ost und West die zivilen und politischen Rechte einerseits und die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen andererseits in einer neuen Deklaration zu vereinen, Ost und West auf eine gemeinsame Sprache der Humanität zu vereidigen. Die Amerikaner blieben der Abstimmung allerdings fern und weigern sich bis heute, die »Erklärung von Wien« anzuerkennen, die u. a. das Recht auf Nahrung kodifiziert.

Ihr erstes autobiografisches Buch hieß: »Wie herrlich, ein Schweizer zu sein«. Was ist daran so herrlich, ein Schweizer zu sein?
Die Schweiz ist ein wunderbares Land. 42.000 Quadratkilometer, nur sechs Prozent bewohnbar. Ich bin Bürger der Republik Genf, Republik seit 1536. Die Schweiz ist ein total verrücktes Land. Man hat meine parlamentarische Immunität aufgehoben, weil ich die Machenschaften des Geldkapitals angeklagt habe. Die Schweiz lebt vom Blutgeld aus der Dritten Welt. Sie ist das zweitreichste Land der Welt nach dem Pro-Kopf-Einkommen. Sie hat keine Rohstoffe. Der Rohstoff ist das fremde Geld. Aber ich bin dort aufgewachsen, habe in einer mittelständischen calvinistischen Familie eine glückliche Kindheit verlebt, Bildung und Freiheitsrechte genossen. Und ich konnte die Eidgenossenschaft bei der UNO vertreten, seit nunmehr 17 Jahren. Ich habe die weite Welt gesehen. Ein Privileg.

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