nd-aktuell.de / 19.04.2017 / Politik / Seite 5

Vorsicht, heiße Kartoffel!

Angst vor Kontrollverlust bestimmt die Debatte über ein Einwanderungsgesetz - auf eigene Art auch in der LINKEN

Uwe Kalbe

Einwanderung ist eine Tatsache. Deutschland ist jetzt erst dabei, sich an sie zu gewöhnen, obwohl sie eine alte Tatsache ist. Ein Einwanderungsgesetz bleibt dagegen umstritten. Dieses hätte die Einwanderung aus Ländern außerhalb der EU zu regeln - in der EU gelten die Normen der Freizügigkeit. Am besten entspricht der Status quo den Vorstellungen der Union, ein Einwanderungsgesetz wird mit Misstrauen betrachtet. In Einzelgesetzen, vor allem dem Aufenthaltsgesetz, sind Möglichkeiten der Einreise zu Arbeitszwecken bereits geregelt. Allerdings sind diese unübersichtlich und restriktiv, die Einreise ist einer Art dauerhaftem Misstrauensdiktum unterworfen, um das Risiko zu minimieren, dass jemand die Ausreise verweigert, wenn der Staat die Zeit für gekommen hält.

Die Gretchenfrage der Einwanderung lautet, wie viel Kontrolle, also Einschränkung der Zuwanderung als wünschenswert oder menschenrechtlich vertretbar angesehen wird. Es geht dabei wohlgemerkt nicht um das Recht auf Asyl, dieses im Grundgesetz erhaltene Grundrecht wird von keiner Partei offen in Frage gestellt, auch wenn seine Verwirklichung gesetzlich mittlerweile sehr eingeschränkt ist. Es geht um Zuwanderung aus sozialen Gründen, zum Beispiel, um einer Arbeit oder Ausbildung nachzugehen.

Am weitesten zeigt sich die LINKE bereit, Zuwanderung zuzulassen. In ihrem 2011 in Erfurt beschlossenen Grundsatzprogramm lehnt die Partei jede »Migrations- und Integrationspolitik ab, die soziale und politische Rechte danach vergibt, ob Menschen für das Kapital als ›nützlich‹ oder ›unnütz‹ gelten«. »Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen.«

Von einem Einwanderungsgesetz ist nicht die Rede. Im März 2015 distanzierte sich die Bundestagsfraktion der LINKEN gar von den Debatten über ein solches Gesetz, in denen es vor allem um ein Punktesystem gehe, »mit dem Hochqualifizierte oder Menschen mit besonders gefragten Berufskenntnissen weltweit angeworben werden sollen«. Wie im Parteiprogramm wird eine solche »selektive Migrationspolitik« abgelehnt, die Rechte nach Nützlichkeitskriterien vergibt. »Die Grenzen müssen offen sein für alle Menschen, nicht nur für besonders Wohlhabende oder Gebildete.«

In einem Interview mit der »Welt« hatte Oskar Lafontaine vor einiger Zeit allerdings davon gesprochen, dass die Einwanderungsfrage eine »nicht geklärte Frage innerhalb der Programmatik der LINKEN« sei. Der Fraktionschef im saarländischen Landtag hatte die Einwanderung eine soziale Frage genannt und den Ruf nach offenen Grenzen eine »zentrale Forderung des Neoliberalismus«. Lafontaine sprach sich deutlich dafür aus, dass »der Staat darüber entscheiden können« muss, wen er aufnimmt. Für Widerspruch und Irritation sorgte er in seiner Partei auch deshalb, weil er formulierte, »wer illegal über die Grenze gekommen ist, der sollte ein Angebot bekommen, freiwillig zurückzugehen«. Danach bleibe nur die Abschiebung.

Für Oskar Lafontaine ist nicht die Frage nach einem Einwanderungsgesetz entscheidend, sondern dass die LINKE sich den sozialen Folgen der Zuwanderung stellt, die derzeit vor allem von den Rechten in schwärzesten Farben an die Wand gemalt werden. Er ist dezidiert der Meinung, dass solche Folgen, er spricht dabei von »Lohn- und Mietkonkurrenz«, ein reales Problem sind. Eines, auf das die LINKE bisher keine Antwort habe, eine mithin »ungeklärte Frage«. Auch wenn es zutreffender wäre, von einer von der Programmatik der LINKEN abweichenden Haltung Lafontaines zu sprechen - ob sein Befund nicht trotzdem zutrifft, bleibt in der Partei bisher tatsächlich ungeklärt. Dass Zuwanderung nicht in jeder Größenordnung tolerierbar oder gar wünschenswert sein kann, diesem Gedanken kann sich seit dem Jahr 2015 jedenfalls auch nicht mehr jeder Linke entziehen.

Eine Arbeitsgruppe der LINKEN hat im Auftrag der Landtagsfraktionen in den östlichen Bundesländern ein Einwanderungsgesetz entworfen, das neben der Einwanderung aus sozialen Gründen auch das Asyl- und das Staatsangehörigkeitsrecht einzuschließen versucht. Der Entwurf hält sich eng an die Vorgaben des Parteiprogramms. Er schlussfolgert daraus die Notwendigkeit, »dass die Gesellschaften für Einwanderungsbewegungen so offen und durchlässig wie möglich gehalten werden«. Danach ist von einem »rechtlichen Regulierungsbedarf« die Rede, der erforderlich sei, um »einen abgesicherten Rechtsstatus zu erhalten und den bestehenden Status zu verbessern«. Das Papier stellt damit einen Regulierungsbedarf fest. Das ist etwas anderes als der Verzicht auf Regulierung mit der Begründung, dass diese ja immer zugleich Einschränkung bedeutet. Zugleich kehrt der Entwurf die in Deutschland geltenden Gesetzesvoraussetzungen um, wenn die Verfasser als ihr Ziel benennen: »Anstelle der Formulierung von Ausnahmen wollen wir die Voraussetzungen und rechtlichen Grundlagen für eine legale Einreise und einen legalen Aufenthalt bestimmen.«

Die in dem Papier genannten Einwanderungskriterien sind alles andere als Hürden: Im Mittelpunkt des Einwanderungsrechtes soll der »soziale Anknüpfungspunkt« einer Person in Deutschland stehen. Als solcher werden familiäre Beziehungen genannt, eine Erwerbstätigkeit, Ausbildung oder Studium. Aber auch eine Gemeinwohltätigkeit wie die Mitgliedschaft in einem Verein oder sonstige Gründe, die für eine »soziale Verwurzelung im Bundesgebiet« sprechen, werden als Einwanderungsgrund anerkannt. Nach einem Jahr soll die soziale Verwurzelung geprüft werden, dies ist die ordnungspolitische Eingriffsmöglichkeit, die der Entwurf vorsieht. Die Grundfrage, ob der Entwurf die Einwanderung einer zahlenmäßigen Steuerung des Staates unterwirft, muss mit einem klaren Nein beantwortet werden.

Überlegungen der SPD und der Grünen unterscheiden sich hiervon deutlich. Im vergangenen November stellten SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann und sein Fraktionskollege Karamba Diaby einen Gesetzentwurf vor, der über ein Punktesystem für Einwanderung von Fachkräften sorgen soll, die in Deutschland nachgefragt sind. Qualifikation, Sprachkenntnisse, Arbeitsplatzangebot, Alter und Integrationschancen sollen sich zu einer Mindestpunktzahl addieren; der Bewerber erlangt damit einen Platz in einer Warteliste - der von der SPD festgelegte Umfang dieser Liste lag bei zunächst 25 000 Personen pro Jahr. Begrenzung und Steuerung sind per Gesetz vorgesehen - ihre Familien sollen die Einwanderer mitbringen dürfen, wenn sie sie selbst versorgen können.

Olaf Scholz, Erster Bürgermeister von Hamburg, sprach von einer »vorsichtigen Herangehensweise« seiner SPD-Genossen, die aber »sicher klug« sei. 25 000 Zuwanderer seien freilich eine »sehr überschaubare« Zahl angesichts jener 900 000 Arbeitskräfte, die jedes Jahr aus den EU-Staaten nach Deutschland kämen. Scholz selbst hat in seinem aktuell veröffentlichten Buch »Hoffnungsland. Eine neue deutsche Wirklichkeit« eigene Ideen unterbreitet, um Einwanderung zu ermöglichen, aber in Grenzen zu halten.

Deutschland stehe ein Kontrollweg offen, der anderen versperrt sei, schreibt Scholz in seinem Buch. 100 Millionen Menschen sprechen weltweit Deutsch, doch die meisten lebten in Europa - Deutsch ist die in Europa meistgesprochene Muttersprache - und profitierten bereits von der hier geltenden Freizügigkeit. Deutschland könne die Zuwanderung von Menschen außerhalb Europas dadurch begrenzen, dass es die Kenntnis seiner Sprache in einem Punktesystem stark privilegiere. »Wer Deutsch auf einem hohen Niveau beherrscht, könnte die Möglichkeit bekommen, ein Visum für Deutschland zu erhalten, um dort nach einer Arbeitsstelle zu suchen.« Die Motivation könnte für Anwärter stark genug sein, auch wenn sie bei der Bewerbung scheiterten, glaubt Scholz offenbar, wenn er meint: »Dies könnte ein Anreiz sein für ehrgeizige Frauen und Männer, in ihrer Heimat anzufangen, die deutsche Sprache zu erlernen ...«

Unlängst legten die Grünen im Bundestag einen Gesetzentwurf vor, der das Punktesystem in einer eigenen Variante präsentiert. Dieses wird überaus flexibel gehalten durch eine Kommission, die es jedes Jahr auf den aktuell neuesten Bedarfsstand von Wirtschaft und Gesellschaft bringt. Auch die Grünen haben eine eigene Methode, die Kontrolle über die Struktur und Zahl der Bewerber zu behalten. Außer der Kommission, die die Maßstäbe und auch die Zahl der Zuwanderer jährlich festlegt, ist in ihrem Entwurf eine natürliche materielle Auslese vorgesehen.

Einwanderer erhalten eine sogenannte Talentkarte, aber keine soziale Unterstützung. Und auch wenn das Gesetz einerseits besonders liberal ist, weil es auch einen »Spurwechsel« von Asylbewerbern in die Gruppe der Arbeitsmigranten (und zurück) erlaubt, trifft nicht nur die Kommission, sondern schon das Gesetz eine harte Vorauswahl. Nur einigermaßen betuchte Bewerber werden in Frage kommen, sobald eine Arbeitssuche erst in Deutschland aufgenommen werden kann. Auch die Erlaubnis, dass ein Medizinprofessor sich eine Zeitlang als Tellerwäscher über Wasser halten darf, enthüllt die Arbeitssuche als Abenteuer mit vagem Ausgang.

Die Kluft zur LINKEN, die etwa in einer rot-rot-grünen Koalition zu überbrücken wäre, könnte kaum größer sein, wenn man solchen Vorstellungen das strikte Urteil von Sevim Dagdelen, integrationspolitische Sprecherin im Bundestag, entgegenhält: »Deutschland braucht kein Einwanderungsgesetz, sondern eine soziale Integrationspolitik durch die Wiederherstellung des Sozialstaates… Die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz ist eine Forderung nach einem Auslesesystem und Lohndrückerei.« Ist dies nur Warnruf an den politischen Gegner oder auch Selbstvergewisserung in den eigenen Reihen? Auch hier handelt es sich um eine Art Sorge vor Kontrollverlust ...