Venezuela: Leben wie im Kriegszustand

Die Historikerin Margarita López Maya im Gespräch über die Abwärtsspirale ihres Landes unter Präsident Nicolás Maduro

  • Jürgen Vogt
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Mittwoch riefen die Opposition zur »Mutter aller Demonstrationen« und die Regierung zur Massenkundgebung. Was treibt die VenezolanerInnen derzeit auf die Straßen?
Wir stehen einem diktatorischen Regime gegenüber, das den Rechtsstaat nicht respektiert. Aber nicht nur das. Diese Regierung garantiert weder die Ernährung der Bevölkerung noch die allernötigste Gesundheitsversorgung. In Caracas bilden sich morgens um sieben die Schlangen vor den Bäckereien, um ein paar Brötchen zu kaufen. Die Krankenhäuser sind kollabiert. Die Kindersterblichkeit steigt, die Alten sterben, weil es keine Medikamente gibt. Das alles bleibt im Dunkeln, offizielle Statistiken gibt es schon lange keine mehr. Alles dreht sich um die Versorgung mit dem Nötigsten. Niemand kann mehr geregelt zur Arbeit gehen, die Kinder gehen kaum noch zur Schule. Es ist, als würden wir in einem Kriegszustand leben.

Ist das der Auftakt einer Protestwelle, wie sie 2014 über das Land rollte?
Das ist möglich. Die Opposition hat es geschafft, dass die Menschen wieder massiv auf die Straße gehen. Die Beteiligung am Mittwoch war enorm, nicht nur in Caracas. Das auf Eis gelegte Referendum zur Amtsenthebung des Präsidenten und der gescheiterte Dialog zwischen Regierung und einem großen Teil der Opposition hatte die Bevölkerung demobilisiert. Jetzt sind die Menschen wieder auf der Straße, und zwar bewusster und organisierter. Durch die gemeinsamen Forderungen nach Neuwahlen und der Respektierung des Parlaments haben sich die politischen Parteien und sozialen Protestbewegungen einander angenähert. Hier entsteht ein neues Bündnis, das über das hinausgeht, was bisher als Opposition galt. Hätte nur die oppositionelle Parteienallianz Mesa de la Unidad Democrática (MUD) aufgerufen, wären weit weniger Menschen gekommen.

Margarita López Maya

Margarita López Maya (65) ist promovierte Soziologin und Historikerin der Zentraluniversität Venezuela in Caracas. Wie viele unterstützte sie 1998 die Präsidentschaftskandidatur von Hugo Chávez, der unter anderem eine neue Verfassung versprochen hatte und sie auch auf den Weg brachte und per Referendum absegnen ließ. Mitte der Nullerjahre ging sie wegen dem zunehmenden autoritären Charakter des Regimes auf Distanz. Über Krise und Proteste in Venezuela sprach mit López Maya für »nd« Jürgen Vogt.
 

Die Regierung von Präsident Nicolás Maduro konnte aber ebenfalls massiv mobilisieren.
Seriöse Umfragen belegen, dass der Rückhalt der Regierung in den Armenvierteln, den chavistischen Hochburgen, bröckelt. In manchen Barrios sind die Chavistas fast schon in der Minderheit. Aber die dortige Bevölkerung hat kaum Möglichkeiten, ihre Unzufriedenheit offen zu zeigen. Eingeschüchtert wird sie von den Colectivos, den regierungstreuen bewaffneten paramilitärischen Gruppen, die die Barrios kontrollieren. Eine andere Form der Kontrolle sind die CLAP, die seit einem Jahr bestehenden »Lokalen Komitees für Versorgung und Verteilung«, über die gerade die Menschen in den Barrios mit Nahrungsmitteln und anderen Basisprodukten versorgt werden. Da wird sehr darauf geachtet, wer den Aufrufen der Regierung folgt und wer nicht.

Der Präsident hat von Wahlen gesprochen, kommt er der Opposition entgegen?
Am Mittwoch bedankte sich Maduro bei den Chavistas auf der Avenida Bolivar, sprach von einer überwältigenden Unterstützung und davon, dass er schon ganz sehnsüchtig auf die nächsten Wahlen warte, die seine Partei mit 80 Prozent gewinnen würde. Solche Aussagen pendeln zwischen reiner Fiktion und Täuschungsmanövern. Die Regierung hat bisher keinerlei Zugeständnisse gemacht. Und dies, obwohl auch der Druck aus dem Ausland sehr groß ist. Die Opposition hat bereits für Donnerstag zum nächsten Protestmarsch aufgerufen. Ich sehe die große Gefahr, dass die Menschen ermüden.

Könnte das Militär die Macht übernehmen?
Einen Militärputsch halte ich im Moment für unwahrscheinlich, dafür steht der Großteil der Militärs dem Präsidenten noch immer zu nah. Die Signale, die bisher aus den Kasernen kamen, sind sehr schüchtern. Aber die Situation ist- gelinde gesagt - verrückt, denn die Riege aus Regierung und Militär hat den Bezug zur Realität der Bevölkerung und des Landes völlig verloren. Ein Szenario könnte tatsächlich sein, dass aktive Militärs oder die zivilen Militärs, also jene ehemaligen Generäle, die heute Gouverneure in vielen Bundesstaaten sind, Maduro zu echten Verhandlungen mit der Opposition drängen, oder ohne ihn eine Regierung der nationalen Einheit installieren und Neuwahlen ansetzen.

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