Vertreibung aus dem Paradies

Victor Gardons: Sein Armenierroman »Brunnen der Vergangenheit« verbindet Historisches und Märchenhaftes

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie ist es möglich, dass bitteres historisches Geschehen zur märchendurchwirkten Legende wird und unsägliches Leid sich in der Erinnerung mit paradiesischem Zauber verbindet? Gibt es das überhaupt? Man mag es nicht glauben, aber das gibt es - in der Schreibkunst eines orientalischen Erzählers, der als Kind aus seiner armenischen Heimat vertrieben wurde, sich in der Fremde, in Frankreich, aber die Schönheit, den Zauber und den Duft der zerstörten Kinderwelt aufbewahrt und in einen autobiographischen Roman verwandelt hat.

Victor Gardons »Brunnen der Vergangenheit« (erster Teil einer Trilogie) gleicht einer unerschöpflichen Quelle lebendigen Wassers im biblischen Garten Eden, der der Überlieferung nach unweit der armenischen Heimat des Autors gelegen haben soll. Der Junge Wahram wächst in der Altstadt von Van in einer großen Familie auf, deren Haupt- und Mittelpunkt die Großmutter ist, eine sehr angesehene und verehrte »Große Frau«, die die Körper und Seelen der Menschen mit den Kräutern und Säften des Gartens zu heilen versteht. Dieser alte, liebevoll gepflegte Garten ist die Wunderwelt des Kindes. Da gibt es Obst aller Art, Weinbeeren und Pflaumen wie zuckersüße Topaskugeln, Aprikosenbäume mit den »Früchten der Semiramis« und die dreihundertjährigen Birnenbäume; da wachsen Rosen, Tulpen und indische Nelken, und über allem wacht die Natter, die Hüterin des Gartens.

Wahram ist ein aufgeweckter Junge, der vor nichts Angst hat, überall dabei sein und alles genau wissen will. Er ist der Augapfel der Großmutter und manchmal ein kleiner Teufel, der sich ständig in Gefahren begibt und sich immer wieder herauszuwinden versteht.

Eines Tages entdeckt Wahram im dunklen Keller des großen Hauses der Familie einen Folianten, der von einem vergrabenen Schatz und einem geheimnisvollen Smaragdritter berichtet. Großmutter, von Wahram befragt, will nicht darüber sprechen, sie gebietet ihm Schweigen. Aber der Smaragdritter wird für Wahram bald zur utopischen Traumfigur werden und ihn durch alle Schrecknisse, die kommen, wie ein Schutzengel leiten.

Wahrams Vater ist Silberschmied und spielt eine wichtige Rolle in der armenisch-nationalen Untergrundbewegung der Armenagan, die den Jungtürken mit ihrem »Komitee für Einheit und Freiheit« nicht trauen. Alle vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen sprechen eher für baldige neue Verfolgungen. Sie haben nur allzu recht. Der Weltkrieg bricht aus, und in seinem Gefolge flammen auch die Kämpfe im türkischen Machtbereich gegen die Minderheiten wieder auf.

Die Wunderwelt Wahrams wird dabei zugrunde gehen. Noch können sich in Van, einem Zentrum des militärischen Widerstandes der Armenier, die tapferen Armenagan behaupten. Als die Türken vorerst abziehen, kommen jedoch die Horden des russischen Zaren, machen den Garten zum Lagerplatz und zerstören alles. Die Ereignisse überschlagen sich, mit dem Sturz des Sultans beginnt die endgültige Vertreibung und Vernichtung der Armenier. Auch Wahrams Familie muss sich in den unendlich langen Zug der Vertriebenen einreihen. Dieser Weg des Elends voll Qualen, Durst und Krankheit wird für die meisten zum Todesmarsch.

Wahram schlägt sich über weite Strecken dank seiner ungeheuren Geschicklichkeit allein durch, ein kleines fremdes Kind im Schlepptau, über Berge und durch Schluchten, tage- und nächtelang dem Polarstern folgend, den ihm einst die Großmutter zeigte, und er findet, so viel sei verraten, am Ende einen Teil seiner Familie am Heiligen Berg Ararat wieder.

Es wird weitergehen - zunächst in der fremden Welt von Tiflis - denn eines Tages muss wenigstens ein Geretteter authentisch Bericht erstatten und die armenische Tragödie von der Vertreibung aus dem Paradies und der Errettung am Berg Noahs aufschreiben.

»Dieses Buch kommt genau zur rechten Zeit«, wird auf dem Umschlag »Le Monde« zitiert. Es bleibt ein Rätsel und spricht für westliche Ignoranz, dass der Roman, erstmals 1961 in Frankreich erschienen, viel weniger beachtet wurde als Berichte »aus zweiter Hand« wie Franz Werfels Armenier-Roman, der damals fast ein Kultbuch war. Zu spät ist es aber nicht, an die schmerzvolle Geschichte von Wahrams Volk zu erinnern.

Victor Gardon: Brunnen der Vergangenheit. Roman. Aus dem Französischen von Gerda von Uslar. Unionsverlag. 495 S., br., 18,95 €.

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