Gewalt gegen Kinder bleibt oft unbemerkt

Die Weddinger Beratungsstelle des Deutschen Kinderschutzbundes zählt jährlich rund 750 Hilfegesuche

  • Gisela Gross
  • Lesedauer: 3 Min.

»Haste Ärger gekriegt?« »Haue.« Die beiden Grundschüler, die sich beim Warten auf Grün an einer Ampel unterhalten, wirken betreten. Einer blickt nur zu Boden. Äußerst selten wird im Alltag sichtbar, dass Eltern zuschlagen.

»Das Thema Gewalt ist bei uns das täglich Brot«, sagt Sabine Bresche. Die Koordinatorin der Beratungsstelle des Deutschen Kinderschutzbundes in Wedding zählt auf: Kinder werden vernachlässigt, körperlich und emotional misshandelt, erleben häusliche Gewalt mit und erleiden sexualisierte Gewalt. »Da kommt das ganze Spektrum.« Bresche ist eine von drei Sozialpädagoginnen in der Einrichtung in der Prinz-Eugen-Straße. Auf der Fensterbank ihres Beratungszimmers sind bunte Kuscheltiere aufgereiht. Die Hilfsstelle wird von Familien aus ganz Berlin kontaktiert. Rund 750 teils anonyme Anfragen nimmt die Beratungsstelle jedes Jahr entgegen.

Neben Eltern suchen zunehmend auch Lehrer und Erzieher Rat, wenn sie unsicher sind, ob das Wohl eines Kindes gefährdet sein könnte. Die Frage stellen sie sich meist dann, wenn ein Kind mit seinem Verhalten auffällt. Nach Fällen von zu Tode misshandelten Kindern und großen öffentlichen Debatten in den vergangenen Jahren sieht Bresche diese Berufsgruppen unter gestiegenem Druck, nichts zu übersehen. Wiederkehrende Muster, die aufhorchen lassen sollten, gibt es aus ihrer Sicht aber kaum: »Gewalt gegen Kinder lässt sich nicht auf Altersgruppen oder bestimmte Schichten zurückführen. Das geht durch die gesamte Gesellschaft.« Risikofaktoren gäbe es ihrer Meinung aber schon: »Dazu gehören Alleinerziehende und Eltern in prekären finanziellen Umständen.«

Kai Bussmann, Professor für Strafrecht und Kriminologie, hat Gewalt in der Erziehung über Jahre hinweg erforscht und sieht vorrangig bildungsferne Familien betroffen. Insgesamt sinke das Gewaltlevel aber seit Jahren. »Das hat vor allem etwas mit dem steigenden Bildungsniveau zu tun«, sagt Bussmann. Der Wissenschaftler erklärt, dass die Kompetenzen der Eltern, Konflikte ohne Gewalt beizulegen, deutlich zugenommen hätten.

»Häufig sehen wir, es sind eigene Gewalterfahrungen aus der Kindheit, die dazu führen, dass das Kind gewalttätig erzogen wird«, sagt Sabine Bresche. Viele Eltern seien unsicher in Erziehungsfragen, gerade beim Versuch, Grenzen zu setzen. »Eltern haben eine abstrakte Angst davor, Rabenmütter oder Rabenväter zu sein. Dass die Nachbarn das Jugendamt anrufen, dass das Kind rausgeholt wird«, sagt Bresche.

Bussmann erklärt, dass sich solche Befürchtungen in den vergangenen Jahren verstärkt hätten. Die Eltern fänden körperliche Züchtigung nicht mehr akzeptabel, weil sie sie zunehmend als erzieherisch schädlich ansähen. Die Hand rutsche nur noch in Stresssituationen aus.

Der aktuelle Anstieg von Armut auch hierzulande birgt für den Wissenschaftler einen Stressfaktor in sich, der wieder zu einem Anstieg von Gewalt führen könne. Dabei hält er es auch aus wirtschaftlichen Gründen für klug, Kinder gewaltfrei zu erziehen: Sind Kinder zu Hause Gewalt ausgesetzt, nehme ihre Leistungsfähigkeit in der Schule ab. Sie seien dann weniger aufmerksam. Beeinträchtigungen beim Lernen zählen ebenso wie soziale Auffälligkeiten zu den Folgen von Gewalt, sagt Bussmann und erklärt, dass das letztlich Hemmnisse die in der heutigen Leistungsgesellschaft seien.

Als Eltern Hilfe zu suchen, sei - anders als viele dächten - eine Stärke und nicht etwa eine Schwäche, sagt Sabine Bresche in der Beratungsstelle. Teils komme der Wille zur Veränderung nicht aus den Familien selbst, sondern durch Druck von Lehrern oder Erziehern. »Die Frage ist oft, wie Eltern angesprochen werden können, damit sie die Sorge um das Kind verstehen, anstatt gleich wegzulaufen und zum Beispiel drohen, ihr Kind aus der Kita zu nehmen.« Wie das gelingt? Bresche versucht, Familien zu zeigen, dass man über alles sprechen kann. dpa

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