Phantomschmerz Lohnnebenkosten

Zahlen des Statistischen Bundesamts widerlegen Mainstream-Argumentation

  • Wolfgang Kühn
  • Lesedauer: 3 Min.
Deutschland ist ein Sanierungsfall, weil die Lohnkosten und besonders die Lohnnebenkosten zu hoch wären. Im vergangenen Wahlkampf behauptete die jetzt amtierende Bundeskanzlerin, Angela Merkel (CDU), allein durch diese würden täglich bundesweit 1100 Arbeitsplätze verloren gehen. Beweise und Fakten blieben Mangelware.
Mit Verspätung hat dieser Tage das Statistisches Bundesamt einen Überblick aller Arbeitskosten einschließlich der Lohnnebenkosten je geleisteter Arbeitsstunde der Privatwirtschaft (produzierendes Gewerbe und marktbestimmte Dienstleistungen wie Handel, Gastgewerbe, Verkehr und Nachrichtenübermittlung, Kredit- und Versicherungsgewerbe sowie unterneh-mensnahe Dienstleistungen) in den EU-Mitgliedsländern für 2004 veröffentlicht. Die Daten sind trotz ihres Alters für die gängige Argumentationskette der wirtschaftlichen Eliten über den vermeintlichen Sanierungsfall Deutschland wegen zu hoher Löhne und Gehälter überraschend: Erstens steht die Bundesrepublik weder bei den Arbeitskosten noch bei den Lohnnebenkosten an der Spitze der 25 Mitgliedsländer. Eine Arbeitsstunde kostet in Deutschland 28,17 Euro, das ist der fünfte Platz innerhalb der 25 EU-Staaten. Noch vor Deutschland rangieren Dänemark, Schweden, Frankreich, Belgien und Luxemburg. Zweitens beträgt der Anteil der Lohnnebenkosten an den gesamten Arbeitskosten in Deutschland 33,3 Prozent, und mit diesem Wert bleibt es unter dem Schnitt aller 25 EU-Mitgliedsländer von 36,4 Prozent. In einer entsprechenden Rangliste wäre das Platz 14, noch hinter Rumänien, der Slowakei oder Spanien. Dort liegen die anteiligen Lohnnebenkosten über den deutschen Wert.
Drittens bleibt die hohe Arbeitsproduktivität in Deutschland unberücksichtigt. Sie beträgt beispielsweise das Vierfache gegenüber Polen - gestattet es, auch höhere Löhne als zu zahlen. Andererseits bleiben die unterschiedlichen Kaufkraftparitäten des Euro bei diesem Vergleich unberücksichtigt, denn das Preisniveau der Lebenshaltung bestimmt auch die Höhe der Löhne.
Viertens sind die erst jetzt veröffentlichten Daten von 2004 überholt. In den beiden letzten Jahren stagnieren die Löhne in der Bundesrepublik, während sie in den meisten EUMitgliedsländern gestiegen sind. Es ist realistisch anzunehmen, dass die Bundesrepublik hinsichtlich der Höhe der Arbeitskosten je geleisteter Stunde weiter zurückgefallen ist, da hierzulande keine oder nur geringe Lohnsteigerungen im Gegensatz zu den benachbarten EU-Mitgliedsländern erzielt wurden. Übrigens hat das gleiche Statistische Bundesamt, das erst jetzt die Angaben über die Arbeitskosten 2004 im internationalen Vergleich veröffentlichte, einen Tag später wieder bestätigt, dass auch im Jahr 2006 die Bundesrepublik Exportweltmeister geblieben ist. Es bleibt dem Leser überlassen selbst zu urteilen, warum es weder Polen noch einem anderen EU-Mitgliedsland mit niedrigen Arbeitskosten und noch niedrigeren Lohnnebenkosten gelungen ist, der Bundesrepublik diesen Platz streitig zu machen.


Privatwirtschaft 2004
Hier die Arbeitskosten (AK) je Stunde, der Anteil der Lohnnebkosten (NK) in Euro und Prozent einiger EU-Staaten

Land   AK   NK   %
EU   25   21,81   7,94   36,4
Deutschland   28,17   9,38   33,3
Dänemark   31,98   5,66   17,7
Schweden   31,15   16,01   51,4
Frankreich   28,85   14,54  50,8
Belgien   30,36   14,06   48,9
Italien   23,03  10,62  48,5
Vereinigtes Königreich   24,97   7,14   28,8
Tschech. Rep.  5,95   2,34   39,8
Polen   4,60   1,14   24,9
Quelle: Statistisches Bundesamt
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