Kriecht dahin wie eine zahnlose Windelschnecke

Bei allem Respekt vor dem historischen 1. Mai, heute hat er ausgedient! Kerstin Ewald fordert einen neuen Kampftag für die Anliegen der Arbeitenden

  • Kerstin Ewald
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer weiß schon, dass Schnecken die festesten Zähne aller Lebewesen haben. Die Windelschnecke bildet eine Ausnahme. Sie ist zahnlos - wie der 1. Mai. Bei allem Respekt und bei aller Einsicht in die Notwendigkeit der Kämpfe um Erhalt und Verbesserung von arbeitsrechtlichen Errungenschaften: Der 1. Mai als Tag der Arbeit sollte abgeschafft werden. Oder präziser: Wir behalten diesen freien Tag, für den unsere oder anderer Leute Großväter und Großmütter gestritten haben, und widmen ihn um in einen Tag zum Schutz der Grill- und Trinkfreuden in freier Wildbahn. Das ist er für den größten Teil der Bevölkerung ja sowieso schon. Mit etwas Interpretation wird der Tag zur eindrucksvollen Demonstration gegen Stress, den omnipräsenten Leistungsgedanken, für Faulheit und eine bessere Work-Life-Balance. Da wäre für jeden etwas dabei.

Als Kampftag der Arbeiterbewegung - oder dem, was von ihr übrig ist - hat der Maifeiertag ausgedient. Das wissen wir seit langem. Das weiß eigentlich auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Und auch das ist gewiss: Der 1. Mai hat in Deutschland seine Unschuld spätestens verloren, als die Nationalsozialisten ihn missbrauchten, um die Basis der Arbeitenden in die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« einzugliedern. Die Tradition wird heute noch von Nationalisten gepflegt, die auch dieses Jahr wieder zahlreiche Demonstrationen angemeldet haben.

So wundert es auch nicht, wenn sich viele Linke an diesem Tage regelmäßig in einem emotionalen Dilemma wiederfinden. Es ist ein ähnliches Gefühl, wie es viele am Muttertag haben, der ja auch von den Nationalsozialisten aufgebauscht und usurpiert worden ist. Übergeht man die Tage einfach, fühlt man sich undankbar. Und so machen sich jedes Jahr wieder einige halben Herzens zur Maidemo auf - aus Traditionspflege, Pflichtgefühl oder um Freunde und Freundinnen zu treffen. Andere versuchen immerhin, den Nazis den Weg zu versperren.

Es gab freilich eine Zeit, da lagen die Dinge anders. Die große Bedeutung des 1. Mai für die Belange der Arbeitenden begann 1889, als auf einem internationalen Kongress in Paris 400 Abgesandte sozialistischer Parteien vereinbarten, dass am 1. Mai »gleichzeitig in allen Städten die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen«. Damit sandten sie ein Fanal für eine Arbeitszeitverkürzung um die Welt.

In Deutschland setzten sich 1890, am ersten »Internationalen Kampftag der Arbeiterbewegung«, rund 100 000 Arbeiterinnen und Arbeiter ebenfalls für einen kürzeren Arbeitstag in Bewegung: mit Streiks, Demonstrationen vor allem in den Großstädten Berlin, Dresden und Hamburg. Auseinandersetzungen um die Arbeitszeit zogen sich anschließend über mehrere Monate hin. Der Vorläufer des DGB war geboren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der 1. Mai in beiden Teilen Deutschlands staatlich garantierter Feiertag. Unvergessen sind die riesigen Demonstrationen in Ostberlin, die allerdings oft einen Appell an die Werktätigen beinhalteten, mehr und besser zu produzieren. Im Westen war der Maifeiertag kein Geschenk an die Bevölkerung, sondern vielmehr ein geschickter Schachzug, denn seine Wirkung war die eines Beruhigungsmittels. Schon bald vollzog der einstige Kampftag eine wellenförmige Abwärtsbewegung in die Bedeutungslosigkeit. Nachdem viele Modernisierungsschübe der Wirtschaft und politische Reformprogramme weitere Keile in die Schar der Arbeitenden getrieben haben, ist der 1. Mai zu einer zahnlosen Schnecke geworden. Wiederbelebungsversuche, wie derjenige der »Neuen Sozialen Bewegungen« in den 1970er Jahren, fruchteten wenig. Warum sich also weiter dort abmühen, wo schon Generationen vor uns scheiterten?

Doch bevor der 1. Mai endgültig beerdigt wird, muss ein neuer potenter Kampftag der Bewegung gefunden werden. Überausbeutung, Ungerechtigkeiten, Arbeitskämpfe - Stichworte finden sich gewiss.

Ein möglicher Anlass für den neuen Supertag der Arbeitenden wäre der 24. April 2013: Es ist der Tag, an dem in Bangladesch über 1000 Menschen in der einstürzenden Fabrik Rana Plaza starben. Seit dem Einsturz wurden im Land die Proteste der Textilarbeiter heftiger, teils gewaltsam. Hunderttausende Textilbeschäftigte forderten die Erhöhung des Mindestmonatslohns auf 75 Euro im Monat. Der Fall Rana Plaza galt als symptomatisch für die desolaten Arbeitsbedingungen in der Branche und auch für die fehlende Verantwortung von Bekleidungsunternehmen und Modemarken entlang der Lieferketten. Die Rana-Plaza-Arbeitenden hatten auch für bekannte Handelsketten wie Benetton, El Corte Inglés und KiK gefertigt.

Weitere Terminvorschläge für einen neuen Kampftag der Arbeitenden können ab sofort in der Redaktion eingereicht werden.

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