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Der ausgetriebene Geist

Prophet der Krise ohne Vision einer Alternative? Wie »Das Kapital« von Wissenschaft und Politik in ein Trümmerfeld verwandelt wurde. Michael Brie über ein heute unbekanntes Meisterwerk

  • Michael Brie
  • Lesedauer: 7 Min.

Marx‘ Schwiegersohn Paul Lafargue erinnerte sich, dass Karl Marx sein »Kapital« mit dem unbekannten Meisterwerk in Balzacs gleichnamiger Erzählung verglich.

Ein großer Maler, so Balzac, hatte in sehr vielen Jahren das vollendete Bild seiner Geliebten schaffen wollen und zeigte es endlich anderen. Aber anstatt der vollkommenen Wirklichkeit eines jungen Mädchens sahen die Betrachter »verworren aufgetragene Linien« und eine immer wieder übermalte Leinwand. Nur in einer Ecke der Leinwand, schrieb Balzac, ragte »ein köstlicher, … ein lebendiger Fuß« heraus »wie der Torso einer Venus aus parischem Marmor, der sich mitten aus den Trümmern einer vom Feuer zerstörten Stadt erhebt«.

Marx schien der erste und einzige veröffentlichte Band seines Hauptwerks ein solcher Torso zu sein.

Heute liegen dank der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe alle Manuskripte vor, die Marx im Rahmen seines politökonomischen Werks zwischen 1844 und 1878 geschrieben hat. Fast jeder Strich des Werkes kann nun nachvollzogen werden. Gibt es also irgendeinen Grund, auch heute noch auf das »Kapital« als auf ein unbekanntes Meisterwerk und von Feuer zerstörtes Trümmerfeld zu blicken? Meines Erachtens gibt es dafür sogar mehr Gründe als jemals zuvor: Marxens Werk ist der revolutionäre Geist ausgetrieben worden!

Das »Kapital« wird von den meinungsprägenden Zeitungen immer dann zitiert, wenn eine neue Krise den Glauben an den Kapitalismus erschüttert. Kaum jemand kommt jedoch dabei auf die Idee, seine sozialistischen oder kommunistischen Zielstellungen ernstzunehmen. Zuletzt wieder 2008/2009. Marx erscheint als Prophet der Krise ohne jede Vision einer Alternative.

Auch Marxens Karriere in den Sozialwissenschaften ist an diese Wahrnehmung gebunden. Der frühere Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, schrieb in den Nachwehen dieser Krise, »dass man die aktuelle Entwicklung der modernen Gegenwartsgesellschaften ohne den Gebrauch bestimmter auf Marx zurückgehender Schlüsselbegriffe nicht auch nur annähernd verstehen kann«. Kein Bezug wird dabei zu Marx‘ Frage hergestellt, wie in einer solchen Krise die Bedingungen einer nachkapitalistischen Ordnung entstehen könnten. Marxens wissenschaftliche Suche nach Akteuren einer Transformation bleibt ohne modernes Gegenstück.

Man könnte auch sagen, dass es erstens die heutige wissenschaftliche und publizistische Rezeption des »Kapital« ist, die Marx‘ Werk immer wieder neu in einen Trümmerhaufen verwandelt. Man bedient sich je nach Gusto einzelner Teile seines Werks. Die Marxsche Frage aber, wie gerade wegen der immer noch wachsenden Herrschaft der Kapitalverwertung über Arbeit, Natur und Gesellschaft und in ihrem Rahmen Bedingungen einer nachkapitalistischen Ordnung entstehen können, ist weitgehend ad acta gelegt.

Zweitens haben auch Aufstieg und Fall der Sowjetunion dazu beigetragen, Marxens »Kapital« in ein Trümmerfeld zu verwandeln. War es doch das »Kapital« gewesen, das den Marxismus des »Kommunistischen Manifests« aus einer bloßen Hypothese in eine unwiderlegbar wissenschaftliche Theorie verwandelt haben sollte, so Lenin. Die Oktoberrevolution schien ihm und seinen Anhängern als Beweis der welthistorischen Macht dieser Theorie, der sowjetische Staatsparteisozialismus als deren Verwirklichung. Die Sowjetunion schien in ihrem Zerfall deshalb Marxens Werk mit unter sich zu begraben. Der Glutherd dieser Theorie schien erloschen.

Das »Kapital« hatte von Anfang an gegen ein Missverständnis zu kämpfen. Es war eine so lebendige, so überzeugende Analyse und Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise und ihres Herrschaftscharakters, dass dabei das wesentliche Anliegen des Werks für viele Leserinnen und Leser in den Hintergrund trat.

An seinen Freund Ludwig Kugelmann schrieb Marx 1868 bezogen auf den Brief eines deutschen Textilunternehmers: Dieser »Brief hat mich sehr gefreut. Er (der Unternehmer) hat indes meine Entwicklung zum Teil missverstanden. Sonst hätte er gesehen, dass ich die große Industrie nicht nur als Mutter des Antagonismus, sondern auch als Erzeugerin der materiellen und geistigen Bedingungen zur Lösung dieser Antagonismen darstelle, die allerdings nicht auf gemütlichem Wege vorgehen kann.«

Marx wollte nicht die kapitalistische Ökonomie an sich verstehen und bloß deren negative Folgen aufzeigen. Er wollte in das Wesen genau jener Prozesse eindringen, durch die die kapitalistische Produktionsweise mit ihren Leistungen wie mit ihren Unterdrückungs- wie Zerstörungstendenzen die Voraussetzungen ihrer eigenen Überwindung erzeugt. Er wollte zeigen, wie der Kapitalismus die Bauelemente des Sozialismus und seine eigenen Totengräber hervorbringt. Ihm ging es von Anfang an darum, »nicht dogmatisch die Welt (zu) antizipieren, sondern … aus der Kritik der alten Welt die neue finden (zu) wollen«. Mit der unter direkter Anregung durch Engels 1844 begonnenen Kritik der politischen Ökonomie wollte er durch die kritische Analyse des Kernprozesses der bürgerlichen Gesellschaften und ihrer bisherigen wissenschaftlichen Reflexion begründen, warum eine kommunistische soziale Revolution nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist.

Genau in jener Zeit, da Marx jene Manuskripte verfasste, die den Grundbestand aller vier Bände des »Kapital« ausmachten, war er führend an der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation, der IAA, im September 1864 beteiligt, die die Arbeiterkämpfe und sozialistischen Bewegungen europaweit und bis in die USA zu koordinieren begann. Grundgedanken seines Werkes trug er in dessen Zentralrat vor, um den Zusammenhang von ökonomischem und politischem Kampf überzeugend zu begründen. Während er die Drucklegung des ersten Bandes des »Kapital« vorantrieb, nahm er wöchentlich an den Sitzungen des Zentralrats der IAA teil.

Der Ausblick auf eine nachkapitalistische Gesellschaft am Ende des »Kapital« deckt sich ganz mit jener politischen Strategie, die Marx und Engels in dieser Zeit als gültig für die gesamte Arbeiterbewegung durchsetzen wollten. Wie es in der »Inauguraladresse« der IAA, verfasst von Marx, hieß: »Um die arbeitenden Massen zu befreien, bedarf das Kooperativsystem der Entwicklung auf nationaler Stufenleiter und der Förderung durch nationale Mittel. Aber die Herren von Grund und Boden und die Herren vom Kapital werden ihre politischen Privilegien stets gebrauchen zur Verteidigung und zur Verewigung ihrer ökonomischen Monopole … Politische Macht zu erobern ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen.«

Für Marx hatte jede Krise des Kapitalismus immer dazu geführt, dass nach Lösungen gesucht wurde, die über ihn hinausweisen, und dies doppelt. Zum einen geschehe dies negativ: Der Staat griffe auf neue Weise ein, aber um die privatkapitalistische Verwertung zu retten. Aktiengesellschaften, neue Kreditformen, ein zentralisiertes Banksystem wären Vergesellschaftung auf der Basis des Kapitalismus. Aber es würden Formen entstehen, die bei der Überwindung des Kapitalismus genutzt werden können.

Zum anderen würden Arbeiterinnen und Arbeiter positiv Gewerkschaften, Genossenschaften, Banken, Kooperativen gründen, um aus eigener Kraft an Alternativen zu arbeiten - in den Nischen des Kapitalismus und unter dem Druck der Konkurrenz. Dies seien die Experimentierfelder des Neuen und Organisationsformen des Kampfes. Auch die antikolonialen Befreiungskämpfe gegen den Imperialismus der kapitalistischen Zentren oder der Kampf gegen Sklaverei und für die Emanzipation der Frauen zählte Marx zu solchen Formen der Vorwegnahme des Zukünftigen.

Ernst Bloch hat den Geist des Marxismus, wie er sich klassisch im »Kapital« und Marxens politökonomischen Manuskripten verkörpert, in die Formel gepresst: »Die dialektisch-historische Tendenzwissenschaft Marxismus ist … Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit plus der objektiv-realen Möglichkeit in ihr; all das zum Zweck der Handlung.«

Dieser Geist kritischer Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit des Marxschen Meisterwerks ist uns verloren gegangen. Deshalb der oft detailverliebte Blick auf die »Trümmer einer vom Feuer versehrten Stadt« und das wunderschöne Torso des ersten Bandes des »Kapital«.

Das »Kapital« gehört ganz dem 19. Jahrhundert an. Es war Teil der ersten Welle des Sozialismus, der Zeit der Formierung der intellektuellen, politischen und praktischen Elemente einer Alternative zum Kapitalismus. Das 20. Jahrhundert wurde durch eine zweite Welle von Alternativen geprägt - als sowjetischer Staatsparteisozialismus, sozialdemokratischer Reformsozialismus, antikolonialer, feministischer, antirassistischer Sozialismus von Emanzipationsbewegungen. All dies gehört in seiner Widersprüchlichkeit zu unserem Erbe.

Das 21. Jahrhundert braucht eine dritte Welle von Sozialismus. Denn ein Zugang aller Menschen und überall zu den Grundgütern eines freien Lebens - zu Demokratie, Wasser und sauberer Luft, sinnvoller Arbeit und vor allem auch Frieden - ist nur möglich, wenn die Dominanz der Kapitalverwertung gebrochen wird.

Marx‘ Vorstellungen von einer Gesellschaft, die von freier Zeit des Daseins Füreinander, des gesellschaftlichen Engagements, der Sorge und Muße geprägt ist, wo der Überfluss der gemeinschaftlich genutzten Güter für alle den privaten Luxus Weniger ablöst, wo die Menschen die natürlichen und gesellschaftlichen Reichtümer ihren Nachkommen nicht verarmt, sondern bereichert hinterlassen, wo Politik und staatliche Macht eingesetzt werden, um eine soziale und ökologische Transformation nicht zu behindern, sondern zu befördern, wo Gesellschaften sich zivil begegnen, sind hochaktuell.

Anknüpfend an solche Ansätze brauchen wir tatsächlich eine erneuerte Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit, die wirksame Handlungsperspektiven aufzeigt und Einstiege in den Ausstieg aus dem Kapitalismus geistig wie praktisch inspiriert.

Gelänge dies, dann würden wir in Marxens politökonomischem Werk wieder das entdecken, was es war: Teil eines offenen, kritischen, unvollendeten Suchprozesses, der dazu beitragen kann, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Es gibt also 150 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes des »Kapital« viel zu tun.

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