Arbeiter, Automaten, Algorithmen

Google als General Intellect: Karl Marx und die »innere Schranke« des Kapitals. Von Timo Daum

  • Timo Daum
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Autor und Technik-Experte Paul Mason schreibt in seinem Buch »Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie«, der Kapitalismus habe sich zwar als sehr dynamisch und anpassungsfähig erwiesen, damit sei jetzt aber endgültig Schluss: Durch die Digitalisierung gerate er an seine Grenzen; die Informationstechnologien taugten nicht als Grundlage für einen neuartigen, stabilen Kapitalismus. Das digitale Zeitalter führe zur Erosion von Marktmechanismen, zur Aushöhlung von Eigentumsrechten und zur Zerstörung der Beziehung zwischen Einkommen, Arbeit und Profit. Seit der Finanzkrise sei klar, dass wir auf der Schwelle zu einer neuen Phase stünden, die er »Postkapitalismus« nennt.

Die theoretische Grundlage für diese These glaubt er in einer Notiz von niemand Geringerem als Karl Marx selbst gefunden zu haben.

Der Autor

Timo Daum, Jahrgang 1967, arbeitet unter anderem als Hochschullehrer in den Bereichen Medien, Online und Ökonomie. Im Herbst erscheint von ihm das Buch »Digitaler Kapitalismus« im Verlag Edition Nautilus.

Paul Mason ist es zu verdanken, dass so ein eher esoterischer Text von Karl Marx einem breiteren Publikum bekannt geworden ist: das sogenannte Maschinenfragment aus den »Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie«. Um das Jahr 1858 verfasste Marx zahllose Notizen zu ökonomischen Themen. Dieses Manuskript lag jahrelang in der Schublade, wurde von Engels aufbewahrt, bis es schließlich im Jahre 1939 unter dem Titel »Grundrisse« zu einer ersten deutschsprachigen Edition in Moskau kam.

Die »Grundrisse« führten immer ein Schattendasein, bis sie in den 1970er Jahren von Neo-Marxisten entdeckt wurden, die sich vom Marxismus-Leninismus und von dessen Fixierung auf das Proletariat abgrenzen wollten. Die »Grundrisse« dienten ihnen als eigentliches Hauptwerk und Richtschnur für eine Kapital-Kritik, die sich eher an der Wertformanalyse und einem Verständnis des Kapitals als prozessierendem Selbstwiderspruch orientierte, und die dem Marx des Klassenkampfs und der historischen Mission des Proletariats eher ablehnend begegnete.

Wertkritische (Robert Kurz) oder an der Wertformanalyse interessierte (Georg Backhaus) Strömungen fanden hier einen Fundus an Überlegungen, bei denen nicht der Klassenkampf im Vordergrund stand, sondern eine Charakterisierung des Kapitals als fetischistische Maschine. Das Kapital selbst wird zum Subjekt der Geschichte, zum »automatischen Subjekt« (Marx), das hinter dem Rücken aller Beteiligten eine Struktur konstituiert, die sie dem unaufhörlichen »kybernetischen Prozess« (Robert Kurz) einer Verwandlung abstrakter menschlicher Arbeit in Geld unterwirft. Der »esoterische Marx der Grundrisse« gilt ihnen als Entdecker des gesellschaftlichen Fetischismus und radikaler Kritiker der »abstrakten Arbeit«. Auch für Antonio Negri und insbesondere die Postoperaisten galten die »Grundrisse« als Marx’ wichtigstes Werk, das ihnen als Richtschnur bei ihrer Analyse des Postfordismus dienen sollte. Das Maschinenfragment wurde hier zum Ausgangspunkt der Analyse von immaterieller Arbeit.

Beim Maschinenfragment handelt es sich um ein Gedankenexperiment. Marx stellt darin folgende Frage: Was passiert, wenn durch die Anwendung von Wissenschaft und Technik auf die kapitalistische Produktion in letzter Konsequenz die unmittelbare Arbeit aus dieser verschwindet, gegen Null geht, vernachlässigbar wird?

Der Wert einer Ware in der kapitalistischen Produktion ist Marx zufolge bestimmt durch den Anteil gesellschaftlich notwendiger Arbeit, der darin vergegenständlicht erscheint. Der Arbeiter bearbeitet den Gegenstand und wertet ihn dadurch auf. Die Ware erzielt am Markt einen Preis, der im Schnitt diesen Wert realisiert. Das Kapital erzielt einen Mehrwert aus der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, mit anderen Worten: Es ist profitabel.

Die Konkurrenz zwingt das Kapital dazu, immer innovativ zu sein, zu rationalisieren, lebendige Arbeit durch Maschinen, Automaten und Algorithmen zu ersetzen. Kapitalistische Warenproduktion bedient sich der Erkenntnisse der Wissenschaft, operiert auf dem Stand der Technik, Knowledge fließt in den Produktionsprozess mit ein. Marx erfand den Begriff des General Intellect (engl. für »allgemeinen Verstand«) für allgemeines Wissen, das in seiner gesellschaftlichen Funktion als unmittelbare Produktivkraft wirkt. Wenn eine Maschine sich etwa der Schwerkraft bedient, den Siedepunkt einer Flüssigkeit oder eine bekannte chemische Reaktion unmittelbar zunutze macht, dann ist der General Intellect am Werk.

Was geschieht nun, wenn der General Intellect zum alles entscheidenden Produktionsfaktor wird, die unmittelbare Arbeit, die im Produktionsprozess an der einzelnen Ware verrichtet wird, einen immer geringeren Anteil hat, letztlich gänzlich vernachlässigbar wird? Wenn die Produktivität des Kapitals immer weiter steigt, sich seine organische Zusammensetzung (das Verhältnis von konstantem Kapital zu variablem Kapital) immer mehr zugunsten des Capital Fixe verschiebt, wenn irgendwann gar keine lebendige Arbeit mehr benötigt wird?

Dann werden auch keine Arbeiterinnen und Arbeiter mehr unmittelbar ihrer Mehrarbeit beraubt, nicht mehr ausgebeutet, das Kapital kann keinen Mehrwert mehr abschöpfen, keinen Profit mehr realisieren. Das Kapital kann seinen Lebenssinn nicht mehr verwirklichen und muss daran zu Grunde gehen!

Das ist kurz gefasst die Idee der inneren Schranke des Kapitals, wie sie in den »Grundrissen« skizziert wird. Das Kapital kann keinen Mehrwert aus individueller Arbeit mehr abschöpfen, es kann keinen Profit mehr realisieren. Es sieht so aus, als würden wir dank des Ausbleibens der Revolution die Realisierung dieses Gedankenexperiments erleben dürfen: der General Intellect unmittelbar am Werk.

Google beantwortet über dreieinhalb Milliarden Suchanfragen pro Tag. Dabei ist ein Algorithmus am Werk, dessen Grundprinzip bekannt ist, der Page Rank Algorithmus. Über zweihundert Faktoren spielen bei der Bewertung eine Rolle, diese Faktoren sind im Wesentlichen auch bekannt. Sämtliche Webseiten, die indiziert werden, sind ebenfalls öffentlich zugänglich, die Pflege und Aktualisierung der Such-Datenbanken geschieht automatisch. Der Algorithmus arbeitet allein.

Niemand arbeitet direkt an der Suche. Die Produktivität des Algorithmus’ ist immens. Geht man einmal in einem Gedankenexperiment davon aus, dass Menschen die Suchanfragen beantworten würden, und dafür - sagen wir - geschätzte 30 Sekunden pro Anfrage benötigen würden, müsste Google sage und schreibe 36 Millionen Menschen eine Vollzeitbeschäftigung geben.

Der Einzige, der hier wirklich noch arbeitet, ist der Algorithmus. Einmal geschrieben, kann er unendlich produktiv sein, als massiv parallel prozessierendes allgemeines Wissen. Der General Intellect als unmittelbare Produktivkraft ist da! Nicht nur Google, auch Soziale Medien, Vermittlungsplattformen, Mobilitäts-Services, Routenplaner etc. funktionieren nach diesem Prinzip: digitale Plattformen, die aus nichts bestehen als einem automatischen informationsverarbeitenden Aggregat, das Daten und Algorithmen beherbergt, ständig gefüttert durch die User selbst.

Wissen, Technologie wird zum entscheidenden direkten Produktionsfaktor, ohne Hinzutreten lebendiger Arbeit. Die Summe menschlicher Geistesanstrengungen wird zum unmittelbaren Motor der Geschichte in Echtzeit.

Mason knüpft hier an, wenn er behauptet, aus der Digitalisierung aller Lebensbereiche, dem Ersetzen lebendiger Arbeit durch Roboter und Algorithmen folge zwangsläufig eine Überwindung des Kapitalismus. Er konstatiert, der Kapitalismus hätte sich historisch durch seine Wandlungsfähigkeit ausgezeichnet, damit sei jetzt aber Schluss.

Mit seiner Diagnose steht er nicht allein. Auch Jeremy Rifkin sieht ein Ende des Kapitalismus nahen. Das Internet der Dinge, die Share Economy und die allgemeine Verfügbarkeit digitaler Güter führen Rifkin zufolge dazu, dass der Kapitalismus quasi automatisch übergeht in etwas Neues. Bei ihm heißt der Postkapitalismus durch Information »Null-Grenzkosten-Gesellschaft«.

Die Informationsgesellschaft oder der Post-Industrialismus ist da, aber heißt das auch automatisch, der Kapitalismus ist zu Ende? Was ist, wenn dieses Szenario zwar eintritt, das Kapital aber trotzdem weiterbesteht, wonach es, man möge sich umschauen, eher aussieht? Verwechseln die genannten Autoren vielleicht eine bestimmte historische Etappe mit dem Kapitalismus überhaupt?

Was wir tatsächlich beobachten, ist ein Kapitalismus der digitalen Plattformen, der mit allgemeinem Wissen Millionen macht. Mächtige Internetkonzerne, die sich anschicken, der Welt eine neue Ordnung aufzuzwingen, mit eigenen Regeln, Gesetzen und einer schier unerschöpflichen Kapitaldecke. Der »herrschenden Klasse der digitalen Welt«, wie Nenad Romic die digitale Oligarchie aus dem Silicon Valley vor einigen Jahren genannt hat, gelingt es anscheinend, einen neuen digitalen Kapitalismus aus der Taufe zu heben, der anders funktioniert als vorangegangene Stadien des Kapitalismus. Der Kapitalismus hat sich als extrem wandlungsfähig erwiesen, befürchtungsweise bleibt er das auch weiterhin.

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