In der Plastikkirche

Der aus Venezuela stammende Alejandro Ghersi alias Arca hat sein drittes Album veröffentlicht

  • Michael Saager
  • Lesedauer: 3 Min.

Rezensenten, die vor Glück durchdrehen, wenn sie den Namen Arca hören? Gibt’s ’ne Menge. Gänzlich neue Hörerfahrungen verpasst, wer Arca verpasst, aber eher nicht; und der Mond platzt auch nicht vor Zorn. Einer der spannenderen Popkünstler unserer an sehr unterschiedlichen avanciert-ambitionierten Musiken nicht gerade armen Gegenwart ist der aus Venezuela stammende und in London lebende Soundtüftler aber durchaus. Das haben nicht nur die »ganz normalen« Hörer seiner beiden ersten, hypnotisch-hyperaktiven High-End-Synthetik-Alben aus einer scheinbar fernen Schnipsel-Kratz-Glitch-Zukunft »Xen« und »Mutant« mitbekommen, weshalb Alejandro Ghersi zu Kollaborationen mit Kanye West, Björk und FKA Twigs eingeladen wurde. Und den bereits vorhandenen Stoff entsprechend interessant zu veredeln wusste, indem er ihn hübsch fremdartig erscheinen lässt.

Die Sounds und Beats seines dritten, so schlicht wie intim »Arca« betitelten Albums sind nicht mehr gar so wild, sie sind klarer, fokussierter, weicher, schließen jedoch stimmig an die früheren Arbeiten an. Komplett zugestellt indes ist jener musikalische Möglichkeitsraum, in dem zuvor bis auf ein paar Mikrosequenzen stimmlicher Entäußerungen nahezu nichts war. Anders gesagt: Arca trällert auf »Arca«, als würd es kein Morgen geben.

Gegen die Dringlichkeit seines sakral anmutenden Gesangs und die mit und durch ihn beschworenen Bilder, gegen all die auf Spanisch gesungenen Selbstentblößungen und Verheißungen, in denen es um Arcas Coming-out, um einen Schwulentreffpunkt auf einem Friedhof, um Haut und Häutungen, erotisch ambivalent aufgeladenes Fleisch und schutzlose Körperlichkeit geht, ist nichts einzuwenden. Das ist konsequent überinszeniert, auf schrille Weise sogar schön - und neu für Arca. Schwuler Pop- und Subkultur fügt er damit freilich nichts Neues hinzu. Das Album zu einer quasi-revolutionären Sternstunde schwuler bzw. queerer Popmusik zu machen, wie mancherorts geschehen, ist daher Quatsch.

Mit seinem Countertenor erinnert der 27-Jährige an Anohni, doch im direkten Vergleich (was freilich ein bisschen gemein ist) mit der in New York lebenden queeren Künstlerin mangelt es Arcas hochtheatralisiertem gesanglichen Ausdruck nicht zuletzt an Anohnis, selbst grobe Felsbrocken zu anmutig kullernden Tränen rührender, Tiefe und definitiv auch an Variabilität, so sehr sich der exhibitionistische Narziss in ihm auch müht, all seine Verwundungen, Begierden und (Todes-)Sehnsüchte stimmlich und textlich überzeugend auszuleben.

Gesanglich bringt der eigensinnige junge Künstler seine Anliegen weder musikalisch zwingend noch, nun ja, wahrhaftig rüber. Es fühlt sich alles ein bisschen an wie: Kitsch aus einer Plastikkirche. Das tolle synthetische, amorph verschlungene Zeug aus einer multiperspektivisch gestalteten Zukunft, aus dem die Sounds und Beats gemacht sind, hat das Nachsehen.

Arca: »Arca« (XL Recordings/Beggars)

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