Grotesk und tragisch in einem

In Halle wird der moderne französische Meister Georges Rouault wiederentdeckt

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 5 Min.

Lange haben wir warten müssen, bis dieser außergewöhnliche französische Meister des vorigen Jahrhunderts bei uns wieder voll wahrgenommen wird. In Deutschland war er zuletzt 1983 mit einer Werkauswahl präsent. Nun ist Halle (Saale) gleich mit zwei Ausstellungsplätzen bereit, ihn mit voller Breitseite einschließlich Tiefenwirkung zu präsentieren.

Warum gerade hier - dafür gibt es eine originelle Erklärung. Schon in den frühen fünfziger Jahren hatte der unabhängige Hallenser Galerist Eduard Henning Proben der grafischen Kunsternte aus Paris in seiner Heimatstadt sichtbar gemacht. Chagalls Farblithos und Picassos Skizzen fanden 1956 in seinem Ausstellungsprogramm eine Fortsetzung im Zyklus von Aquatinta-Radierungen »Miserere« von Rouault. Auf ortsansässige Künstler wie Bachmann und Knispel, Rataiczyk und Sitte hatten diese überraschenden Entdeckungen eine beträchtliche Signalwirkung. Es war wie eine Initialzündung.

Diesen Faden heute wieder aufzunehmen und weiterzuspinnen, muss echte Kunstkenner reizen. Wenn hier zwei Chefs von Kunstinstituten sich der Sache annehmen und harmonisch kooperieren, muss man sich schon deshalb darüber freuen, weil das selten zustande kommt. Thomas Bauer-Friedrich hat für das staatliche Kunstmuseum Moritzburg den Hut auf, Matthias Rataiczyk für die private Kunsthalle Talstraße.

Als kreative Ausstellungsmacher fanden sie einen attraktiven Modus, zwei Teile zu einem Ganzen zu fügen. Der eine macht mit dem Ausstellungstitel »Sehen mit geschlossenen Augen« neugierig. Der andere titelt mit Understatement »Die Realität des Lebens«. Die Moritzburg führt den im eigenen Bestand prominent vertretenen Russen Alexej von Jawlensky (1864 - 1941) als Pendant zu dem von 1871 bis 1958 lebenden Franzosen ein und holt wichtige zusätzliche Leihgaben ins Haus. Expressiv übersteigerte Religiosität mache beide vergleichbar, so das Postulat.

Die Kunsthalle Talstraße hingegen vertraut ganz auf die Ausdruckskraft des einen: Der schwerblütig daherkommende und mit leidenschaftlicher Intensität schaffende Einzelgänger Rouault bestückt dort in der Hauptsache mit seinen zwei wichtigsten grafischen Zyklen die Wände: 58 Blatt »Miserere« füllen einen Saal. Opulentes Schwergewicht, gedruckt auf Großplatten, die bis zum Format 60 mal 40 reichen. Und in den übrigen Räumen die fahrendes Artistenvolk verewigende Folge »Cirque de l’Etoile filante«. Für die heute nicht nur aus restauratorischen Gründen stiefmütterlich behandelte grafische Kunst sind zeitlich begrenzte Sonderausstellungen eine Chance, deutlicher wahrgenommen zu werden. In dieser Schau tut sich obendrein ein Experimentierfeld auf: Fließend wird der Übergang von Gemaltem zu Gezeichnetem und Gedrucktem und umgekehrt sichtbar. »Er malt auf Kupferplatten«, sagte man von ihm. Der Maler opferte dabei nichts Malerisches, gewann jedoch grafische Klarheit in bestechender Qualität.

In dem von der Moritzburg dominierten Part gibt es über zwei Etagen eine Bildinszenierung, die den Versuch einer Annäherung zweier Künstler unternimmt, die sich nie begegnet sind. Die beschworene Gemeinsamkeit ist die tief christlich begründete heilige Inbrunst einiger Werke. Bei Jawlensky russisch-orthodox, bei Rouault katholisch geprägt. Verführerisch die Idee. Im Dunkel des Raumes leuchtet von beider Hand magisch das Antlitz des leidenden Heilands. Daneben und darüber malerische und zeichnerische Düsternis des Franzosen, flankiert von seinem turbulent variierenden Aquatinta-Zyklus zum »Père Ubu«.

Das, wofür der Russe im Kreise der Werefkin und der Münter, des Franz Marc und des Emil Nolde im deutschen Exil berühmt wurde, kommt nicht zu kurz. Seine faszinierend farbkräftigen frühen Porträts werden von den blicklos maskenhaft Erstarrten der Spätzeit abgelöst. Soll man darin eine neue Dimension sehen? Es ist eher ein Verlust. Der an Hand- und Kniegelenken gelähmte Meister entdeckte da einen Gott, der Rouault immer gegenwärtig war.

Das hat schon eine gewisse Faszination. Doch dem erloschenen Blick, dem leeren Porträt geht das Menschliche verloren. Rouault setzt andererseits nur schwarze Flecken. Und wir können darin das sehende, ja sogar seherische Auge erkennen. Blickend gewinnt der Mensch Leben. Die expressive Steigerung lebt davon. Dieses bitter grundierte Dasein. Von Kind an zu Hause in der Pariser Arbeitervorstadt Belleville, war der Maler Rouault mit harten Lebensumständen konfrontiert. Das drastisch empfundene Leben sah er oft genug als Martyrium.

Er fragt: »Durchdringt die Gnade das Elend und den Schmerz des Menschen?« Die seltsame Strenge seiner kompakten Blattkomposition bringt uns ein Menschenbild nahe, das sowohl groteske wie tragische Züge trägt. »Der Clown bin ich« ruft er all den Geschundenen und Gefälligen, all den Harlekinen und Columbinen zu - und bleibt doch der beharrlich tiefernst die vor ihm liegenden Platten und Leinwände bearbeitende Kunstschöpfer.

1903 war er im Rahmen der Künstlergruppe »Die Fauves« gestartet. Dass der zunehmend auf sich Gestellte bereits zehn Jahre später unter die Fittiche eines Kunstförderers wie Ambroise Vollard kam, ist einer der raren Glücksfälle der Kunstgeschichte. Kunsthändler, Autor und Verleger in einem! Welch große Chance für van Gogh und Cézanne, Picasso und Matisse, durch ihn über Nacht namhaft zu werden. Vollard erwirbt 1913 auf einen Schlag alles, was Rouault bis dahin gemalt hatte. Er lenkt den Künstler auf die Arbeit an seinen grafischen Zyklen. Er besorgt die besten Drucker. Er macht publik. Er gibt ihm sein Manuskript »Père Ubu« als Textvorlage zum Phantasieren auf der Platte. Er richtet ihm ein Atelier ein. Er vermittelt ihn zu Diaghilews »Ballets Russes«, wo er Bühnenbilder zu Prokofjews »Verlorenem Sohn« macht. Es klingt wie ein Märchen: Als Vollard 1939, zwei Jahrzehnte vor dem Geförderten, stirbt, ist dieser weltberühmt.

Ein kompaktes Lebenswerk konnte entstehen. Heute im »Centre Georges Pompidou« in Paris gesammelt aufbewahrt, stand es hier für Leihgaben zur Verfügung. Die Nachfahren und der französische Staat taten ein Übriges, das Projekt nach Kräften zu fördern. Was in Halles Talstraße 23 in hellem Tageslicht lediglich mit dem Katalog in der Hand zu bewundern ist, wird im Komplex des Moritzburg-Areals leider in eine übertriebene Finsternis versetzt. Ölmalerei zumal verträgt eine Menge Licht, und die Feinheiten der Druckgrafik sollten noch erkennbar bleiben. Auf dem Fußboden angebrachte Beschriftungen lenken die ohnehin handygeblendeten Blicke der Besucher eher von der Kunst ab. Und ob die Berieselung mit Audioguide-Erklärungen die allein seligmachende Museumspädagogik darstellt, sollte man landesweit einmal zur Diskussion stellen. Das wird inzwischen flächendeckend propagiert - und leider allzu bereitwillig vom Publikum angenommen.

Alexej von Jawlensky, Georges Rouault: »Sehen mit geschlossenen Augen«, bis zum 25. Juni im Kunstmuseum Moritzburg, Friedemann-Bach-Platz 5, Halle (Saale); Georges Rouault: »Die Realität des Lebens - Malerei und druckgrafische Zyklen«, bis zum 25. Juni in der Kunsthalle Talstraße, Talstraße 23, Halle (Saale).

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