Razzien und Festnahmen in der Türkei

Einsatz gegen Börse in Istanbul / Online-Chef von »Cumhuriyet« festgenommen / Bundesregierung fordert Zugang zur Journalistin Tolu

  • Lesedauer: 5 Min.

Istanbul. Bei einem Einsatz gegen die Börse in Istanbul im Zusammenhang mit dem Putschversuch in der Türkei sind 57 Menschen festgenommen worden. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, fanden die Festnahmen am frühen Freitagmorgen in sechs verschiedenen Provinzen statt. Insgesamt wurden demnach mehr als 100 Haftbefehle ausgestellt, die Razzien dauerten am Morgen weiter an.

Den Verdächtigen wird Anadolu zufolge vorgeworfen, in den vereitelten Putsch im Juli verwickelt gewesen zu sein. Die Regierung in Ankara geht seitdem mit massenhaften Festnahmen gegen vermeintliche Gegner und mutmaßliche Unterstützer der Revolte vor. Die Türkei vermutet, dass der in den USA im Exil lebende Prediger Fethullah Gülen hinter dem Putschversuch steckt, was dieser jedoch bestreitet.

Wie die Zeitung »Habertürk« auf ihrer Internetseite berichtete, richteten sich die Razzien am Freitag gegen frühere Mitarbeiter der Istanbuler Börse. Ihnen wird demnach vorgeworfen, den verschlüsselten Kurzmitteilungsdienst ByLock genutzt zu haben, der laut der Regierung eigens für die Gülen-Anhänger entwickelt wurde. Sie sollen zudem Transaktionen für die Bank Asya ausgeführt haben, die einst zur Gülen-Bewegung gehörte und 2015 von der Regierung unter Zwangsverwaltung gestellt worden war.

Online-Chef von »Cumhuriyet« festgenommen

Auch gegen die Medien geht die türkische Regierung weiter vor: Wie die oppositionelle Zeitung »Cumhuriyet« am Freitag mitteilte, hat die Polizei den Online-Chef der Zeitung, Ouz Güven, festgenommen. Der Journalist hatte die Nachricht von seiner Festnahme zuvor auch selbst getwittert.

Ärger gibt es auch für zwei Historiker: Wegen Beleidigung des Gründervaters der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, hat die Istanbuler Staatsanwaltschaft gegen die Zwei Haftbefele beantragt. Wie die Nachrichtenagentur Dogan bereits am Donnerstag meldete, wird gegen sie zudem wegen »Aufstachelung zum Hass« ermittelt.

Der Historiker Süleyman Yesilyurt hatte in einer von ihm moderierten Sendung von TV Net am Samstag gesagt, eine Adoptivtochter Atatürks sei in Wirklichkeit dessen Mätresse gewesen. Sein Kollege Hasan Akar hatte zuvor in den sozialen Medien erklärt, Atatürks Mutter habe in einem Bordell gearbeitet und ihr Sohn sei ein »uneheliches Kind«.

Die türkische Medienaufsichtsbehörde RTÜK verurteilte den Sender TV Net zur höchstmöglichen Geldbuße, nämlich fünf Prozent der Werbeeinnahmen des vergangenen Monats. Der türkische Regierungschef Binali Yildirim hatte die Justiz aufgefordert, sich einzuschalten. Die Beleidigung Atatürks, der 1923 als Kemal Pascha Staatspräsident wurde, sich ab 1934 Atatürk (Vater der Türken) nannte und bis zu seinem Tod 1938 Staatschef war, ist strafbar. Aufgrund des entsprechenden Gesetzes mussten sich schon zahlreiche türkische Intellektuelle wegen ihrer Schriften vor Gericht verantworten. Kritiker werten das Gesetz als Einschränkung der Meinungsfreiheit.

Auswärtiges Amt bemüht sich um Kontakt zu inhaftierter Journalistin Mesale Tolu

Das Auswärtige Amt hat derweil die Verhaftung einer deutschen Journalistin in der Türkei bestätigt. Die Bundesregierung sei jedoch entgegen den Gepflogenheiten nicht von den türkischen Behörden über die Ingewahrsamnahme und die Verhängung der Untersuchungshaft informiert worden. »Das ist bedauerlich«, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amts, Martin Schäfer, am Freitag in Berlin.

Mesale Tolu, die für die linke Nachrichtenagentur Etha arbeitet und in der Türkei lebt, hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Bundesregierung dränge nun darauf, Zugang zu Tolu zu erhalten, die in einem Gefängnis bei Istanbul einsitze, so Schäfer weiter. Die türkischen Behörden müssten den Fall »nicht nur anständig, sondern auch völkerrechtsgemäß« behandeln. »Das werden wir auf sehr deutliche Art und Weise geltend machen.«

Im nd-Interview berichtet die Schwester von Mesale Tolu von der Festnahme und dass weder Anwälte noch die Angehörigen Kontakt zu der Journalistin haben.

Inzwischen hat der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) die türkische Justiz aufgefordert, Tolu sofort auf freien Fuß zu setzen. »Das ist ein neuer, besonders dreister Willkürakt der türkischen Autokratie gegen die freie Presse«, erklärte der DJV-Vorsitzende Frank Überall am Freitag. Er erinnerte daran, dass 150 Journalisten in der Türkei inhaftiert seien, weil sie »nicht als Höflinge« des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan berichteten. Auch das Schicksal des inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel bleibe ungeklärt.

EU-Minister Celik: Türkei ist sicher für »echte« Journalisten

Derweil offenbart der EU-Minister Ömer Celik eine ganz spezielle Sicht auf die Pressefreiheit: Trotz zunehmendem Druck auf Medien in der Türkei könnten ausländische Journalisten problemlos ihrer Arbeit nachgehen. »Natürlich ist die Türkei ein sicheres Land für ausländische Journalisten«, sagte Celik auf die Frage einer Reporterin nach einem Treffen mit dem Generalsekretär des Europarats, Thorbjørn Jagland, am Donnerstag in Straßburg.

Das gelte für »echte Journalisten und jene, die sich für journalistische Aktivitäten in der Türkei aufhalten wollen.« Nicht aber für solche, die »unter dem Deckmantel des Journalismus kommen und sich in Aktivitäten mit Terrororganisationen mischen«. Gegen diese würden »natürlich die nötigen Maßnahmen ergriffen«, sagte Celik.

In Wahrheit nimmt der Druck auch auf ausländische Journalisten in der Türkei immer weiter zu. Seit Anfang der Woche befindet sich etwa der französische Fotojournalist Mathias Depardon in Gaziantep in Polizeigewahrsam. Er wurde nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (ROG) in der südosttürkischen Provinz Batman festgenommen.

Depardon arbeitete demnach für die Zeitschrift »National Geographic« an einer Geschichte über die Flüsse Tigris und Euphrat. Ihm werde Terrorpropaganda vorgeworfen. Ende April wurde ein italienischer Journalist nach zwei Wochen Polizeigewahrsam abgeschoben.

Zahlreiche weitere Journalisten sitzen in der Türkei in Haft, darunter der deutsch-türkische »Welt« Korrespondent Deniz Yücel und die Reporterin Mesale Tolu. Ihnen wird Terrorpropaganda vorgeworfen. Auf der ROG-Rangliste der Pressefreiheit belegt die Türkei Platz 155 von 180.

Seit dem Putschversuch im Juli 2016 wurden in der Türkei zehntausende mutmaßliche Gülen-Anhänger inhaftiert oder aus dem Staatsdienst entlassen. Erst Ende April hatte die islamisch-konservative Regierung fast 4.000 weitere Staatsbedienstete entlassen. Auch die Polizei entließ mehr als 9.100 Beamte wegen angeblicher Verbindungen zum Gülen-Netzwerk. Agenturen/nd

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