»In der derzeitigen Form ist die EU nicht überlebensfähig«

Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen im Gespräch über die Wahlen in Frankreich, die deutsche Rolle in Europa und dringende Reformen

Herr Verheugen, in Frankreich hat sich Emmanuel Macron gegen Marine Le Pen durchgesetzt. Ein europaweites Aufatmen folgte, von neuen Chancen ist die Rede. Sind Sie auch so optimistisch?
Günter Verheugen: Natürlich muss man sich darüber freuen, dass Le Pen nicht gewonnen hat. Aber ich sehe überhaupt keinen Grund, sich jetzt gegenseitig auf die Schulter zu klopfen und sich zurückzulehnen.

Warum nicht?
35 Prozent der Wähler in einem sehr großen und wichtigen Land der Europäischen Union haben für eine rechtsradikale, EU-feindliche und nationalistische Politik votiert. Das stimmt mich sehr nachdenklich. Und ob die Chance, die in dem Wahlsieg von Macron ohne Zweifel liegt, genutzt wird, ist keineswegs sicher.

Günter Verheugen

Geboren 1944 in Bad Kreuznach führte ihn seine politische Karriere nach dem Studium an die Seite von Hans-Dietrich Genscher - zuerst im Bundesinnenministerium, später im Auswärtigen Amt. 1977 wurde Verheugen Bundesgeschäftsführer der FDP, ein Jahr später Generalsekretär der Partei. Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1982 trat Verheugen noch im selben Jahr mit anderen linksliberalen FDP-Mitgliedern der SPD bei. Willy Brandt machte ihn 1987 zum Chefredakteur des »Vorwärts«, bis 1999 saß er für die SPD im Bundestag, wo er als Fraktionsvize unter anderem für Außenpolitik zuständig war. Unter Rot-Grün wurde Verheugen Staatsminister im Auswärtigen Amt, wechselte aber bereits 1999 als EU-Kommissar nach Brüssel - zuständig zuerst für Erweiterung, ab 2004 dann für Industrie und Unternehmenspolitik. Bis 2010 amtierte er zudem als stellvertretender EU-Kommissionspräsident. Mit Günter Verheugen sprachen Uwe Sattler und Tom Strohschneider.

Wovon hängt das ab?
Zunächst vom Ausgang der französischen Parlamentswahl im Juni. Man darf nicht darüber hinwegsehen: Das Parteiensystem in Frankreich ist zertrümmert. Und die zweite Frage ist, ob die deutsche Politik bereit ist, in Europafragen nun wirklich auf Frankreich zuzugehen. Da bin ich sehr skeptisch.

Außenminister Sigmar Gabriel hat am Wahlabend relativ deutliche Worte gefunden. Er kritisierte den auf Austerität und deutsche Vormacht hinauslaufenden Kurs von Wolfgang Schäuble und pochte auf europäischen Wandel, der nicht zuletzt von Berlin ausgehen müsse.
Ich teile Gabriels Meinung. Aber man würde natürlich nun auch gern wissen, was das heißt. Also was heißt das in Bezug auf die Konstruktion der Währungsunion, was heißt das in Bezug auf die Idee eines gemeinsamen Haushalts? Was heißt das in Bezug auf den Stabilitätspakt oder in Bezug auf eine mögliche europäische sozialpolitische Agenda? Für die SPD könnte das ein Wahlkampfthema sein.

Gabriels Kritik an Schäuble könnte genau das schon sein: bloß Wahlkampf. Die SPD ist in der Regierung, das hat die deutsche Europapolitik kaum verändert.
Gabriel hat selbstkritisch eingeräumt, dass die SPD dieses Thema in den letzten Koalitionsverhandlungen nicht stärker gemacht hat. Aber Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Was die politischen Hauptströmungen hierzulande nicht sehen wollen, ist, dass Deutschland am derzeitigen Zustand der EU ein gehöriges Maß an Mitverantwortung trägt. Warum? Wegen des politisch und wirtschaftlich vollkommen unsinnigen Beharrens auf Regeln, die irgendwann mal unter völlig anderen Voraussetzungen und, nebenbei bemerkt, auch unter falschen Annahmen gemacht worden sind. Seit Jahren versucht die deutsche Politik, die EU an bestimmte finanzpolitische Dogmen der Berliner Finanzpolitik zu ketten. Sie ist verantwortlich dafür, dass insbesondere in einigen südlichen Mitgliedsländern Wachstumschancen nicht genutzt werden können und es im Ergebnis erhebliche soziale Verwerfungen gibt. Die deutsche Politik muss endlich auf die Partner in der Europäischen Union zugehen. Gerade auch auf Frankreich.

Ob Macron tatsächlich eine Chance hat, in Frankreich eine Wende hinzubekommen, die dann auch verhindert, dass 2022 die Rechtsradikale Le Pen gewinnt, wird nicht zuletzt in Berlin entschieden?
Was den europäischen Rahmen für französische Politik angeht, haben Sie Recht. Aber Frankreich hat selbstverständlich auch jede Menge Hausaufgaben selbst zu machen.

Aber es gibt auch viel Widerstand gegen Berlin in der EU - etwa in der Frage des Umgangs mit den Flüchtlingen. Gibt es diese deutsche Dominanz in Europa wirklich noch?
Berlin ist in der Flüchtlingsfrage allein, nicht abgestimmt mit der EU, vorgeprescht. Das war fatal. Faktisch ist es so, dass gegen den Willen und gegen die Interessen der Bundesrepublik in der EU nichts Wesentliches durchgesetzt werden kann. Alle früheren Bundeskanzler haben jedoch den europäischen Ausgleich gesucht. Dagegen herrscht im heutigen Berlin die Auffassung vor nach dem Motto: Wer die Musik bezahlt, entscheidet, was gespielt wird. Der Bundesinnenminister hat das in seinem unsäglichen Machwerk über die deutsche Leitkultur demonstriert.

Was meinen Sie?
Herr de Maizière sagt dort wörtlich, dass deutsche Interessen oft am wirkungsvollsten durch Europa vertreten werden. Das ist eine vollkommen utilitaristische Auffassung von europäischer Integration, die in den konservativen Kreisen hierzulande inzwischen sehr stark verbreitet ist. Denen gilt die EU allenfalls als Transmissionsriemen für deutsche Interessen. Ich halte das für sehr, sehr gefährlich.

Aber es wird doch in Europa ständig nach deutscher Führung gerufen.
In Wahrheit ist dies ein Ruf nach deutscher Verantwortung. Das ist etwas ganz anderes. Es geht um mehr Kompromissfähigkeit, um mehr Zugehen auf die Interessen der Schwächeren in der EU, es geht um eine weniger selbstbezogene deutsche Europapolitik. Ich kann Ihnen versichern, niemand möchte wirklich von Deutschland geführt werden.

Angesichts der Geschichte sehr verständlich.
Ich habe in Brüssel gelernt, dass, wenn zwei dasselbe sagen, das nicht das Gleiche ist. Wenn deutsche Vertreter die Stimme erheben, wird von den europäischen Partnern immer etwas genauer hingehört, es schwingt immer etwas mit für die anderen, was hierzulande gern vergessen wird. Schauen Sie auf das Leitkultur-Machwerk von de Maizière, wie der da die »tiefsten Tiefen« der deutschen Geschichte eine Folge unserer »Mittellage« nennt - als ob die abscheulichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte etwas mit dem geografischen Ort unseres Landes zu tun haben. Das ist unfassbar. Und so etwas wird im europäischen Ausland sehr genau registriert. Helmut Kohl, über den ich nicht sehr viel Freundliches in meinem Leben gesagt habe, hat dies genau verstanden. Sein Geschichtsbewusstsein war besser entwickelt.

Die Rolle der Bundesrepublik wird aber auch mit der wirtschaftlichen Stärke begründet.
Daraus ergibt sich doch kein moralischer Überlegenheitsanspruch! Eine Aufgabe der europäischen Integration ist doch, dieses deutsche Gewicht für andere erträglich zu machen, und zum Wohle aller zu wenden.

Zurück zu den möglichen Reformen in der EU. Wie können die oft beklagten Demokratiedefizite behoben werden?
Also, meine Berufung zum Mitglied der Europäischen Kommission ist wesentlich demokratischer verlaufen als meine Ernennung zum Staatsminister in der Bundesregierung. Da wurde überhaupt kein Parlament gefragt - in Brüssel hingegen gab es eine harte parlamentarische Anhörung. Das Parlament hat über mich entschieden und später auch über die ganze Kommission. Ich sehe ein großes Defizit in der Tatsache, dass sich die Kommission als eine Behörde versteht und jeder, der dort eine leitende oder kontrollierende Aufgabe hat, nach kurzer Zeit mental selber Teil dieser Behörde wird. So entwickeln sich Brüsseler Eigeninteressen, die von einem Funktionärscorps verfolgt werden. Und zwar ohne ausreichende parlamentarische Kontrolle.

Die EU-Kommission ist ja auch formal unabhängig vom Europaparlament.
Ich fordere schon lange, dass die Kommission als politische Institution aus Wahlen hervorgehen muss. Zu den langfristig notwendigen EU-Reformen gehört die Umwandlung des Systems in eine vollständige parlamentarische Demokratie. Das ist die entscheidende Voraussetzung für echte Gemeinschaftspolitik. Das Parlament muss volle Rechte bekommen, der Ministerrat muss umgewandelt werden in eine erste Parlamentskammer, eine Art Senat, der das föderale Element dann in der Europäischen Union darstellt. Dazu muss man keineswegs die Nationalstaaten abschaffen, wie gern behauptet wird.

Auf die Krise der EU wird auch mit der weitgehenden Idee einer europäischen Republik geantwortet, mindestens aber mit dem Ruf nach einem wirklich gleichen Wahlrecht.
Ich bin sehr dafür. Um den Einfluss der nationalen Funktionärsebenen der Politik auf die Wahlen zu begrenzen, bin ich außerdem für europäische Kandidatenlisten. Diese würden auch dazu führen, dass wir die europäische Diskussion endlich übernational führen. Bisher geht die europäische Politik immer durch den Filter der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit. Das zu ändern wird wegen der Sprachbarrieren schwer. Aber man muss es versuchen.

Gibt es für mehr Integration überhaupt die Bereitschaft?
Man könnte auch so fragen: Wie viele Tritte in den Hintern brauchen wir eigentlich noch, bis wir merken, dass es so nicht weitergehen kann? Wenn Rechtspopulisten bei Wahlen stark werden, heißt es immer: ein Weckruf für Europa. Wann ziehen wir endlich mal die Konsequenzen?

Mit Ihrer Kritik an der EU könnten Sie sich hierzulande den Vorwurf einhandeln, antieuropäisch zu argumentieren.
Es wäre bedenklich, wenn konstruktive, begründete Kritik in eine solche Ecke gestellt würde. Es ist doch viel eher so, dass die kritiklose Hinnahme der Krise der EU kein Beitrag für Europa ist. Krisen sind doch keine Naturgewalten, sondern Resultat politischer Entscheidungen. Deshalb brauchen wir eine wirklich durchgreifende Reform des Integrationsmodells. Damit stelle ich die EU nicht infrage, sondern ich versuche, als glühender und unbedingter Anhänger der Idee der europäischer Einheit, die Union zu retten. In der Form, wie wir sie heute haben, ist die Europäische Union nicht überlebensfähig.

Braucht es einen neuen verfassungsgebenden Prozess?
Ob eine neuerliche Verfassungsdebatte wirklich so identitätsstiftend sein würde, wie mitunter behauptet, bezweifle ich. Und selbst von einer Diskussion über schnelle Änderungen am EU-Vertrag würde ich derzeit dringend abraten, obwohl ich weiß, dass es darin große Defizite gibt.

Warum?
Weil es auf Jahre hinaus nicht die geringste Aussicht gibt, dass ein neuer EU-Vertrag oder auch nur eine substanzielle Änderung des bestehenden Vertrages zu erreichen ist. Das ist ja das Dilemma: Es müsste eigentlich Verbesserungen in den Verträgen und damit in der EU-Politik geben, und damit meine ich nicht den Quatsch mit den krummen Bananen. Sondern das, was die Leute mit Recht ärgert, also etwa die gestörte Balance zwischen der Autonomie der Gemeinde, in der ich lebe, und dem Machtanspruch der supranationalen Institutionen. Daraus resultiert unter anderem die wachsende Ablehnung der EU. Allerdings wird eine wirksame Änderung des Vertrags erst möglich sein, wenn die Vertrauenslücke zwischen der Union und den Bürgern wieder geschlossen ist. Derzeit bekommt man doch dafür keine Ratifizierung in den noch 28 Mitgliedsstaaten hin.

Die Leute würden sich wohl auch mehr soziale Rechte für sich in der EU wünschen.
Niemand sollte vergessen, dass nach dem derzeitigen Vertrag die Vollbeschäftigung ein Ziel der Integration ist. Daran müsste sich die EU-Politik ausrichten, aber das tut sie nicht. Ich sehe auch mit völligem Erschrecken, wie blauäugig mit ökonomisch-gesellschaftlichen Veränderungen umgegangen wird, die nicht an Grenzen halt machen, sondern in der EU und in ganz Europa tiefe Spuren hinterlassen werden.

Sie meinen Digitalisierung, Automatisierung, Robotik …
Schauen Sie doch, wie begeistert eine Industrie 4.0 propagiert wird, ohne die Frage zu stellen, welche gesellschaftlichen Folgen das hat. Wenn sich führende deutsche Industrievertreter inzwischen für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen, dann bin ich zutiefst misstrauisch. Warum tun die das? Wahrscheinlich, weil sie wissen, es wird eine neue Klasse von »Überflüssigen« entstehen, die weder in der Produktion noch im Dienstleistungsbereich gebraucht werden. Die sollen ruhiggestellt werden.

Wer über Europa redet, muss auch über das Problem einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik reden. Von der scheint die EU weiter entfernt denn je.
Das ist leider richtig. Dabei wäre eine wirkungsvolle und aktive EU-Außenpolitik, die man nicht als Streben nach Weltmacht missverstehen darf, gerade jetzt so wichtig: Die EU ist die einzige Kraft auf der Welt, die das Potenzial hat, auf Supermächte einen mäßigenden Einfluss auszuüben und zwischen ihnen im Sinne der Konfliktvermeidung zu vermitteln.

Die EU als Player der internationalen Politik, das klingt jetzt auch nicht gerade nach einer sehr anziehenden Idee.
Schauen Sie sich doch die unglaublichen Probleme an, die wir schon haben und die noch kommen werden. Ein wachsendes soziales Ungleichgewicht auf der Welt, zunehmende Migration, mehr kulturell, religiös oder sozial bedingte regionale Konflikte, der Klimawandel, die Umweltprobleme. Oder die Frage des Umgangs mit den Massenvernichtungswaffen. Die Frage ist, was für eine Weltordnung es uns erlauben würde, diese Probleme zu lösen. Und meine Meinung ist: Eine Weltordnung, die wirklich die Lösung globaler Probleme schaffen kann, die bekommt man nur zustande, wenn der Kontinent Europa dabei als eine Einheit auftritt.

Es gibt immerhin inzwischen die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik«, es gibt eine Hohe Vertreterin in der Stellung der Vize-Präsidentin der EU-Kommission, es gibt einen Europäischen Auswärtigen Dienst
Aber die EU bringt das gemeinsame Gewicht, das wir tatsächlich haben, überhaupt nicht auf die Waagschale. In zentralen globalen Fragen sind wir eine Quantité négligeable, unbedeutend. Die EU macht ja nicht einmal den Versuch, eine eigene Stimme zu erheben - zum Beispiel wenn der US-Präsident Donald Trump ohne UNO-Mandat Krieg führt. Die EU sagt dann, das sei verständlich. Für mich ist das nicht verständlich.

Aber das ist doch keine Überraschung. Die EU hat sich jahrelang sehr stark in Richtung USA orientiert. Nun agiert dort ein Präsident, der Europa geradezu missachtet. Die EU fährt also die schlechte Ernte ihrer zu unkritischen US-Orientierung ein.
Die USA sind unser wichtigster Partner und Verbündeter. Aber wir haben auch eigene Interessen. Wo denken Sie, würde eine militärische Konfrontation USA-Russland, die sich niemand wünschen darf, denn ausgetragen? In Europa. Die Vergangenheit hat zudem gezeigt, dass man anderer Meinung sein kann und dies nicht zum Weltuntergang führt. Denken Sie an den Irak-Krieg, zu dem unter anderem Deutschland Nein gesagt hat.

In der Frage war die EU aber auch tief gespalten.
Die Briten haben damals wegen der traditionell engen Partnerschaft mit den USA zugestimmt und es inzwischen tief bereut, die Ost- und Mitteleuropäer wegen ihres Sicherheitsbedürfnisses gegenüber Russland. Heute zeigen uns das Flüchtlingsproblem und der erstarkende Terrorismus, dass die damalige Position Frankreichs und die von mir bewunderte mutige Haltung von Gerhard Schröder in dieser Frage die richtige war. Auch als EU, auch in einer gemeinsamen Außenpolitik, müssen wir nicht alles mitmachen, was die USA wollen. Denken Sie an den Albtraum etwaiger lethaler Waffenlieferungen für die Ukraine. Da hat die EU gestanden. Aber das ist eben immer noch die Ausnahme. Wir können durchaus selbstbewusst auftreten: Das ist die Haltung der gesamten EU und, lieber Freund, nimm das bitte zur Kenntnis. Dazu braucht es keinen neuen Vertrag. Niemand hindert uns, das Notwendige zu tun, außer wir uns selbst.

Also fehlt es an Einsicht und politischem Willen.
Genau, und es kommt noch ein institutionelles Problem der Integration hinzu. Das zentrale Steuerungs- und Führungsorgan der EU ist der Europäische Rat. Das ist verständlich, denn die Herren der Verträge und damit die Herren des europäischen Systems sind nun mal die Mitgliedstaaten. Aber man wäre wirklich naiv, wenn man glaubte, die Regierungschefs säßen im Rat zusammen, weil sie beseelt sind von dem Gedanken, gemeinsam das Beste für die EU zu tun. Nein: Sie sind beseelt von dem Gedanken, ihre Wiederwahl zu sichern. Und die können sie nur zu Hause gewinnen. Das führt dazu, dass gerade dort, wo die strategischen Ziele der EU bestimmt werden müssten, die nationalen Interessen am stärksten aufeinanderprallen.

Wenn man die Grundstruktur und damit den Europäischen Rat nicht antasten will, wird es dabei wohl bleiben.
Das muss nicht sein, wenn es die Bereitschaft zu einer wirklichen Bewusstseinsänderung geben würde. Das europäische Interesse muss in die nationale Debatte gebracht werden. Solange ausschließlich aus der engen nationalstaatlichen Perspektive an europäische Politik herangegangen wird, wird sich das nicht ändern. Wenn sie die ganze Woche über die EU schlecht machen, dann dürfen sie sich doch nicht wundern, wenn die Leute sonntags nicht für die EU stimmen. Kaum hatte Macron die Wahl gewonnen, hieß es bei den vier Großbuchstaben »Wie teuer wird Macron für uns?« Daran erkennt man, wo der nationalistische Hase im Pfeffer liegt.

In der gegenwärtigen tiefen Krise der EU zeigen sich freilich auch Unterschiede. Es gibt Länder, in denen die Abkehr von der gemeinsamen Politik sehr weit geht. Andere erklären immerhin noch, nicht nur mehr, sondern auch eine bessere EU zu wollen. Was halten Sie von einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten?
Ich sehe darin keine sehr zukunftsfähige Idee. Es ist allenfalls eine Rückfallposition für den äußersten Notfall, wenn uns alles um die Ohren fliegt. Aber es kann kein Gestaltungsprinzip sein.

Mit dem Brexit hat das Um-die-Ohren-Fliegen womöglich schon begonnen.
Also erstens: Es handelt sich um eine demokratische Entscheidung in einem demokratischen Land, auch wenn ich sie zutiefst bedauere. Zweitens: Das Votum der Briten betrifft ein demokratisches supranationales System auf gravierende Weise. Das Vernünftigste wäre nun, nach einer Lösung zu suchen, die für beide Seiten die beste ist. Was aber passiert: Es wird seitens der EU offenbar eine Lösung angestrebt, bei der eine Seite sich auf Kosten der anderen durchsetzen will. Die Politik der 27 in dieser Frage ist übrigens bemerkenswert einmütig.

Was denken Sie: Warum?
Ich glaube, dass die harte Haltung gegenüber London auch dazu dienen soll, ein abschreckendes Beispiel zu schaffen. Dieses Exempel soll wohl demonstrieren, was einem europäischen Land passiert, das aus der EU raus will. Wir sollten aber auch bedenken, dass die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses in der EU ein unverzichtbares Gut ist und sie das von einem Imperium unterscheidet. Die Einigkeit der 27 zum jetzigen Zeitpunkt ist sicher auch der Tatsache geschuldet, die Frage noch etwas hinauszuschieben, wie der britische Beitrag zur EU kompensiert werden soll. Entweder kürzen wir den Haushalt oder die reichen Staaten müssen mehr bezahlen.

Sigmar Gabriel hat genau das angeboten.
Das war eine mutige Aussage. Wir werden auf mittlere Sicht für Europa, für die EU ohnehin mehr leisten müssen, auch finanziell. Die Art, wie seitens der EU der Brexit betrieben werden soll, halte ich für besorgniserregend. Und ich habe kein Verständnis dafür, dass der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker es seinem deutschen Kabinettchef Martin Selmayr erlaubt, die Atmosphäre von Grund auf zu vergiften.

Sie spielen auf die Preisgabe des Inhalts eines vertraulichen Gesprächs zwischen Juncker und der britischen Premier Theresa May an. Glauben Sie, das war so geplant?
Selbstverständlich. Denn anderenfalls würde Juncker diesen Mann längst entlassen haben.

Die britische Seite zeigt sich in den nun begonnenen Gesprächen aber auch nicht gerade kompromissbereit.
Das stimmt wohl, da wird es auch umgekehrt der EU nicht leicht gemacht, gelassene Umgangsformen zu bewahren. Aber ich bin nicht davon überzeugt, dass die aktuelle EU-Position, wir regeln zuerst die Konditionen des Austritts und erst dann reden wir über das zukünftige Verhältnis zu den Briten, wirklich die beste Lösung im Interesse einer künftigen engen Partnerschaft und damit aller betroffenen 500 Millionen Europäer ist.

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