Das Pulver für den Startschuss

Über Ernst Blochs Hoffnung und die Frage, wer die Träger radikaler Gesellschaftsperspektiven sein können

  • Dieter Klein
  • Lesedauer: 8 Min.

Martin Schulz hatte euphorische Hoffnung ausgelöst. Es schien, als habe er mit seiner Forderung nach Gerechtigkeit das Lösungswort der Zeitahnung getroffen, als habe er bei Ernst Bloch dessen Berufung auf Thomas Carlyle nachgelesen: »Was der geistige Vorkämpfer sagte, waren alle Menschen schon nicht weit entfernt zu sagen, sehnten sich danach, es auszusprechen. Die Gedanken aller fahren wie aus einem schmerzlichen Zauberschlaf bei seinem Gedanken auf und erwidern ihn mit Zustimmung.«

Gerechtigkeit war stets der Markenkern der Linkspartei und gerade in Zeiten, als die SPD sie aus den Augen verlor. Nun greift Martin Schulz diese Idee neu auf. Wie Bloch schrieb, war »das Pulver zum Schuss schon vorher bereit, und die Publizität der Zeit hat den Schuss nur nicht gehört, eben weil er an ihrem Horizont geschah«.

Nun aber rücken die Krisen vom fernen Horizont mitten in die Lebenswelt Europas. Nun, so scheint es, kann der Ruf nach Auswegen nicht mehr überhört werden. Armut, die Folgen des Klimawandels, Kriege, das Versagen westlicher Entwicklungspolitik und Perspektivlosigkeit wirken mit zunehmender Migration in den europäischen Alltag hinein. Die Ankunft von Schutzsuchenden wird zum Katalysator von Zerreißproben in der Europäischen Union. Als sicher Geglaubtes verdampft.

Hochtechnologische Produktivitätsfortschritte, die digitale Revolution, der Aufstieg von Hunderten Millionen Menschen in den Schwellenländern aus der Armut in den Mittelstand wecken jedoch Hoffnungen. Ob sie erfüllt oder nach Enttäuschungen noch stärker in Wut und Irrationalität umschlagen werden, hängt davon ab, welcher der möglichen Wege in die Zukunft sich als Antwort nun durchsetzen wird. Auf der Hand liegt, mit Reförmchen allein ist dem Charakter der Zeitprobleme nicht beizukommen.

In dieser Situation tauchte Martin Schulz auf, inszeniert als der große Hoffnungsträger. Er hatte die einzigartige Chance, getragen von der Zustimmung der SPD-Mitgliedschaft und vieler potenzieller Wählerinnen und Wähler, das Steuer des SPD-Tankers herumzureißen und das Zeitfenster der Hoffnung ohne jeden Tempoverlust für den Beginn eines Richtungswechsels der Politik in Deutschland zu nutzen. Nun hätte das Neue - wie Bloch zur Verwirklichung des Prinzips Hoffnung schrieb - »um freigelegt zu werden, aufs Äußerste den Willen zu ihm verlangt«.

Aber kaum gestartet erklärte Schulz bei seinem ersten Treffen mit Vertretern ausländischer Medien, er werde den deutschen Austeritätskurs in der EU nicht lockern: »Herrn Schulz’ Botschaft ist Kontinuität, er deutet an, dass keine große Veränderung im Insistieren Deutschlands auf Schuldenabbau und Strukturreformen eintreten werde, wenn er Angela Merkel als Kanzler ablöst.« So die »Financial Times«. Er bremste die begonnenen rot-rot-grünen Kooperationsgespräche ab. Seine konkreten Vorstellungen für mehr Gerechtigkeit konnte man zwar begrüßen, aber ihre bescheidene Reichweite erlaubte durchaus, sie in einen »besseren« neoliberalen Kapitalismus einzufügen.

Das Gebot der Stunde ist jedoch ein radikaleres: politischer Richtungswechsel. Die gegenwärtig dominierende Entwicklung ist die Fortschreibung des neoliberalen Kapitalismus mit allen ihm eigenen Großgefahren. In diesem Rahmen wirken widerstreitenden Tendenzen. Die eine Tendenz ist die rechtspopulistische, rechtsextreme Entwicklung zu autoritären Regimen vorbei an demokratischen Institutionen, verbunden mit Verrohung der Sitten und Entsolidarisierung. Sie kommt einer fortschreitenden Entzivilisierung des Kapitalismus gleich. Die andere Tendenz sind herrschaftssichernde soziale Zugeständnisse. Lösungen werden in einer grünen Modernisierung gesucht, wie zum Beispiel nationale Klimapläne und die Energiewende in Deutschland zeigen. Aber ein grüner Kapitalismus ohne sozial-ökologische Abkehr vom Neoliberalismus und ohne Zuwendung zu einer neuen solidarischen Weltordnung führt nur in eine nächste Sackgasse.

Eine Hoffnung für viele, besonders für viele in das System eingebundene Intellektuelle, ist eine soziale und grüne Selbstmäßigung des neoliberalen Kapitalismus. Von dieser Hoffnung zeugen viele kluge Vorschläge, jedoch werden sie ohne nachdrückliche Benennung der blockierenden Machtstrukturen formuliert.

Wird die SPD also mehr als die angenehmere unter den schlechten Variationen des neoliberalen Kapitalismus anstreben? Wird sie auf gewiss wichtige soziale Reformschritte setzen, aber eben nur auf solche, die in einen »besseren« neoliberalen Kapitalismus einzufügen sind? Oder wird das Wahlprogramm der SPD auf den Bruch mit dem Neoliberalismus zielen, auf Veränderungen, die dieser nicht mehr in seinen Herrschaftsmechanismus integrieren kann?

Manche geben zu bedenken, dass ein postneoliberaler Kurs von Schulz gar nicht erwartet werden sollte. Er würde in solchem Fall zu viele vorsichtige Wählerinnen und Wähler nur verunsichern und abschrecken und seinen Gegnern im Establishment zu viele Angriffspunkte liefern. Das ist zu bedenken. Aber wenn es zu sehr bedacht wird, ist die Chance vertan, die sich vielleicht gerade auftut.

Der archimedische Punkt für die Entscheidungen in den nächsten Monaten ist nicht, ob Martin Schulz Kanzler wird, sondern ob die plurale gesellschaftliche Linke die Machtverhältnisse gegen die neoliberale Herrschaft und die Neue Rechte drehen kann. Grob gesagt könnten die SPD dafür bei günstigem Verlauf den entscheidenden Stimmenzuwachs, die Grünen die ökologische Dimension des sozialen Bruchs und die LINKE die erforderliche, im außerparlamentarischen Raum geerdete radikal-realistische Transformationsstrategie einbringen.

Aber hat denn die LINKE eine solche Strategie? Hat sie das Pulver für den Startschuss in eine Gesellschaftsalternative - nur dass sie es noch nicht gezündet hat? Hier wird behauptet, dass sie über wichtige Bausteine einer Gesellschaftsalternative verfügt. Aber sie hat weder parteiintern noch gar öffentlich eine starke Strategiediskussion geführt, um diese Elemente zu einer zündenden Gesamtstrategie zusammenzufügen, die Kopf und Herz von Millionen bewegt.

Ansätze, einen Pol der Solidarität zu formieren, sind bisher ebenso wie das Vorhaben eines aufsuchenden Wahlkampfes ohne große Wirkung geblieben. Wird die LINKE in der Lage sein, dies in den nächsten Wochen und Monaten nachzuholen und damit Einfluss auf SPD und Grüne, auf soziale Bewegungen und die breite Öffentlichkeit in der Entscheidung zwischen alternativen Reförmchen und Reformalternative zu nehmen?

Das ist die Gretchenfrage für die Linkspartei. Sie verfügt über fortgeschrittene Ansätze dafür: Erstens das Konzept eines Dritten Pols der Solidarität, das heißt der Vernetzung unterschiedlichster demokratischer Kräfte zu einer breiten sozialen Basis einer links orientierten Wechselstimmung in der Gesellschaft - für eine andere Produktions- und Lebensweise, für eine Europäische Sozialunion und für deren friedliche Weltinnenpolitik

Zweitens: Es liegen ausgearbeitete konkrete Reformprojekte vor, etwa für ein armutsfestes Rentensystem, für eine Bürgerversicherung im Gesundheitswesen, für ein gerechtes Steuersystem, für ein rotes Projekt des sozial-ökologischen Umbaus. Aber diese Projekte sind kaum bekannt und konzeptionell nicht zu einer Gesamtstrategie verbunden. Dazu würde auch gehören, die Schnittmengen ausgewählter Reformkonzepte nicht nur bei Rot-Rot-Grün, sondern auch mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen herauszuarbeiten. Die Zeit rinnt.

Drittens: Linke Aktivisten sind vielfach vor Ort beteiligt und oft organisierend wirksam in Projekten der Selbstermächtigung von Bürgern zur Verbesserung ihres Lebens. Hier wachsen in den Nischen des Kapitalismus entscheidende Bedingungen eines Richtungswechsels. Darauf verweisen die Erfahrungen von SYRIZA und Podemos, vor allem die Erfahrungen mit einer solidarischen Vernetzung solcher Projekte. Eine linke Strategie müsste dem größtes Gewicht einräumen. Warum wurden die Listen zur Bundestagswahl nicht stärker für Aktivisten aus der Zivilgesellschaft geöffnet?

Viertens bräuchte müsste eine linke Strategie Auskünfte über den möglichen Weg zu einer besseren Gesellschaft bieten. Das Konzept einer doppelten Transformation ist ein Angebot dafür: Die Verdichtung von machbaren Reformen zu einem progressiven postneoliberalen Transformationsprozess, zu einem demokratisch erneuerten, sozialeren, stärker ökologisch orientierten und weniger militärisch ausgerichteten Kapitalismustyp. Nötig wäre dazu der Bruch mit allen Variationen des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus. Dieser ist nur vorstellbar, wenn alle bereits vorhandenen Ansätze - vom öffentlichen Sektor über die Daseinsvorsorge bis zu den diversen Non-Profit-Bereichen, der Care-Arbeit, den Unternehmen der Solidargemeinschaft und den vielen Projekten bürgerschaftlicher Selbstermächtigung vor Ort - wirksam gestärkt und vernetzt werden. Nur eine solche Verschränkung systeminterner und systemüberschreitender Transformation würde den Horizont zu einer anderen alternativen Gesellschaft öffnen.

Fünftens kann die Verständigung in der LINKEN einen schon intensiven Diskursstrang aufgreifen: die Auseinandersetzung über eine mögliche Regierungsbeteiligung auf Bundesebene. Wenn sich Chancen für eine postneoliberale progressive Transformation abzeichnen, sollte die LINKE dabei sein. Wenn die Politik der SPD absehbar auf eine sozialdemokratische Mäßigung des neoliberalen Kapitalismus hinausliefe, würde eine Regierungsbeteiligung der LINKEN ihr selbst und dem notwendigen politischen Richtungswechsel schaden. Dann wäre höchstens die Tolerierung einer SPD-geführten Regierung sinnvoll. Die Unterscheidung von beiden Optionen erfordert nüchterne Analysearbeit.

Eine Strategie müsste also einerseits einen starken Einfluss von links auf mögliche Regierungskoalitionen ohne die Linkspartei sichern, auch die Unterstützung sozialdemokratischer und grüner Reformen. Sie muss andererseits bei gegebenen Voraussetzungen eine Regierungsbeteiligung inhaltlich vorbereiten. Ob diese im Herbst 2017 zustande kommt oder nicht: Es müsste jetzt ein Beitrag zur Vorbereitung der gesellschaftlichen Linken darauf geleistet werden, in einer nächsten zu erwartenden Krise handeln zu können - anders als nach zuletzt, als die LINKE kaum als Akteur wirksam wurde.

Die neoliberalen Strategen hatten Jahrzehnte am Gedankengebäude des Neoliberalismus und an einer Strategie gearbeitet. Milton Friedman schrieb 1962: »Wenn sich Leute für eine neue Lösung entscheiden, nehmen sie meist das, was gerade vor ihnen liegt.« Er war aber »mehr und mehr davon überzeugt«, dass es in erster Linie darum gehen müsse, »Alternativen für bestehende Einrichtungen aufzuzeigen und lebendig zu halten, bis das Klima für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Alternativen durch die Gemeinschaft mehr oder weniger günstig ist«. Als 1972 Präsident Allende in Chile durch einen Militärputsch mit Hilfe der CIA gestürzt wurde, als Ronald Reagan in den USA und Margret Thatcher in Großbritannien die Wahlen gewannen, standen Friedmans Chicago Boys bei Fuß. Sie hatten die Umsetzung ihrer neoliberalen Gegenstrategie zum sozialstaatlich regulierten Kapitalismus schon längst vorbereitet.

Ironie der Geschichte: Die dem kurzfristigen Profit verschriebenen Neoliberalen hatten in der Krise des Sozialstaatskapitalismus einen Langzeitvorlauf für die neue neoliberale Kapitalismusvariante. Die eigentlich für Zukunftsvisionen prädestinierte LINKE ist heute im Zeitverzug - die SPD erst recht. Nun aber, mitten in umwälzungsschwangeren Turbulenzen, ist wirkungsmächtiges Handeln nötig. Mit Bloch gesprochen: Das Aufwachen aus dem »schmerzlichen Zauberschlaf«. Damit mehr Menschen beginnen, »es auszusprechen« - die zugkräftige Erzählung von den Konturen einer anderen Gesellschaft, praktisch vorgelebt im Getümmel der sozialen Kämpfe.

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