Selbst die Sonne blinzelte rein

»Tag der offenen Tür« im neuen Pierre-Boulez-Saal - mit dem Arditti Quartett und Werken von Elliott Carter

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 3 Min.

Groß der Andrang an diesem »Tag der offenen Tür«. Sonst ist ja fast kein Reinkommen. Die Internationale der Konzerthörer hält den Pierre-Boulez-Saal (wie auch die Elbphilharmonie Hamburg) seit seiner Eröffnung im März in Beschlag. Kartenbestellungen kommen aus aller Welt. Volk bleibt im Prinzip draußen. Der Eintritt ist teuer. Journalisten erhalten nicht mal Begleitkarten.

Am Sonntag nun, bei strahlendem Wetter, konnten die Leute rein, wie sie wollten. Mit Billett, aber ohne Geld. Neugierige von der Straße fanden sich ein, Touristen, Bürger, einerlei ob musikinteressiert oder nicht. Auch junges Volk trieb es in die Französische Straße, schichtweise, in der Art einer Wachablösung. Jedermann also hatte Gelegenheit, die Architektur des ovalförmig hochragenden Saals zu genießen und dessen ausgezeichneten Klang zu erleben. Der hat 20 Fenster. Die blieben erhalten beim Umbau des Kulissendepots der Staatsoper zu dieser Konzert- und Bildungsstätte, sodass die Sonne - ungewöhnlich für Konzertsäle - ein bisschen reinscheinen konnte.

Neben Musik liefen sodann die Ausstellung »Klang der Utopie« und ein Film. Beide erzählen die Geschichte des West-Eastern Divan Orchestra und der Barenboim-Said-Akademie. Kein Mozart oder Schumann wurde im Saal gespielt, um die Leute zu locken, sondern Kammermusik des 20. Jahrhunderts. Einfach sollte es den Besuchern nicht gemacht werden. Richtig so. Wer nichts zu zahlen braucht, soll wenigstens scharf gewürzt essen. Im Blickpunkt stand musikalisch der US-amerikanische Komponist Elliott Carter. Ein Urgestein. Der verdienstvolle, hochdekorierte Künstler wurde sage und schreibe 103 Jahre alt, er starb 2012 in New York City. Warum gerade er? Daniel Barenboim - auf ihn geht die Programmgestaltung hauptsächlich zurück - hatte Carter häufig in seinen Konzerten. Die beiden mochten sich, waren befreundet.

Das Werk, das Elliott Carter hinterließ, ist riesig. Alle Gattungen außer elektronischer Musik hat er bedient. Modische Performances waren nicht seine Sache. Neben Orchesterwerken, Ensemblemusiken, Musiktheaterwerken entstanden fünf Streichquartette. Das erste 1950, das letzte 1995. Alle fünf wurden im Boulez-Saal aufgeführt - durch kein geringeres als das Arditti Quartett.

Irvin Arditti hat die Formation 1974 gegründet. Die vier Musiker - neben ihm als Primgeiger musizieren aktuell Ashot Sarkissjan, 2. Violine, Ralf Ehlers, Viola, und Lucas Fels, Violoncello - brachten seither Hunderte von Werken zur Uraufführung, darunter Quartette solcher Berühmtheiten wie Berio, Lachenmann, Ligeti, Stockhausen, Cage, Britten, Harrison Birtwistle, Gubaidulina, Kurtag oder Rihm. Mit allen Genannten hat das Ensemble im konkreten Fall koproduziert. Auch mit Carter, dessen 5. Quartett Arditti beauftragt und uraufgeführt hat. Über 200 Platteneinspielungen kann die Gruppe verbuchen, darunter das gesamte Quartett-Werk der Wiener Schule um Schönberg.

Dass Arditti nun am Sonntag Carters komplettes Quartett-Werk über sechs Stunden hinweg, durch Pausen getrennt, hochqualifiziert aufführte, kann nur gerühmt werden. Jedes Einzelkonzert war gut besucht. Das letzte mit dem fünften Werk erhielt am meisten Beifall. Die gebotene Werkfolge enthüllt Kontinua und Entwicklungssprünge bei Carter. Mit dem ersten lässt Carter den Kanon des Neoklassizismus hinter sich und springt in polytonale, polyrhythmische, atonale Gefilde hinein. Die Werke dazwischen sind je Ergebnisse der Suche nach erweiterten Klang- und Ausdruckmöglichkeiten. Das letzte ist ein typisches Alterswerk, gesättigt, gereinigt, tröstlich. Es enthält zwölf ineinander überfließende Teile, einschließlich fünf Interludien, die in ihren melodischen Brechungen und schneidenden Akzenten kräftigste Impulse aussenden. Schwarz gefärbt, tief empfunden ist der Lento-espressivo-Satz, Gebilde der Trauer, des Schmerzes. Das Adagio sereno trägt meditative Züge. Jenes entrollte polyphone Gewebe darin hält lange an und setzt eine eigentümliche Poesie frei. Im Schlussteil »Capriccio« wimmelt es nur so an überschäumenden Pizzicati und Tremoli. Lakonisch formuliert der Schluss. Endlich finden die vier Musiker zur Melodik zurück. Ein gestrichenes Viertonmotiv, von den Vieren ineinander verblendet, setzt den Punkt.

Meisterliches Ende an diesem schönen »Tag der offenen Tür«, dem man nicht nachzusagen braucht, dass er eine Wiederholung mehrmals im Jahr verdiente.

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