Küss die Hand, Herr Präsident!

Wenn »Propaganda« bedeutet, die Wirklichkeit beängstigend genau zu beschreiben - der Fall Deniz Yücel

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 4 Min.

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten als deutscher Journalist in Bakschischistan. Es ist ein wunderbares Land am Meer, in dem die Menschen unter einem bemerkenswert blauen Himmel leben. Sie liefern Ihrer Redaktion arglos, was diese von Ihnen wünscht: Reportagen aus sogenannten Krisengebieten, Interviews mit mal mehr, mal weniger bedeutenden Personen des Zeitgeschehens, Berichte über Unregelmäßigkeiten in den Regierungsgeschäften.

Die Bakschischistani sind freundliche, gütige Menschen. Sie sind aber auch den Deutschen nicht ganz unähnlich, wie Sie wissen: Ein teils ins Pathologische lappender Fleiß, ein aus einem nationalen Minderwertigkeitskomplex erwachsener und ungesunder sogenannter Patriotismus, bei dem die Herzen der Einheimischen, sobald sie es mit weniger »patriotischen« Andersdenkenden und Freigeistern zu tun bekommen, »enger werden« und »sich zusammenziehen wie Leder in der Kälte« (Heinrich Heine), sowie eine Neigung, unappetitlichen politischen Despoten zur Macht zur verhelfen, zeichnet sie aus. Auch ist Bakschischistan ein NATO-Staat, ein Verbündeter der Bundesrepublik, mit dem gemeinsam sie im Friedens- wie im Kriegsfall unsere, also Ihre und meine Freiheit gegen die Finsterlinge dieser Welt verteidigen will. Es könnte also alles in bester Ordnung sein. Sonne, Schwimmen, Staatsbürgerschutz sozusagen.

Es gibt nur ein kleines Problem: Bakschischistan wird von einem größenwahnsinnigen Hampelmann regiert, der ein noch bizarreres und abenteuerlicheres politisches Weltbild hat als Horst Seehofer und Lord Voldemort zusammen und der, als sei das nicht schon scheußlich genug, obendrein auch noch unfassbar geschmacklose großkarierte Sakkos trägt wie einst Uli Stielike. Außerdem scheint er sich als eine Art Heilsbringer der Menschheit zu betrachten. Seine Hobbys, die er, bislang von einer größeren Öffentlichkeit unbeachtet, exzessiv auslebt, sind das Beschimpfen und das Einsperren von Journalisten und von Menschen, die seine Krawattenfarbe kritisieren oder Witze machen.

Stellen Sie sich also vor, Sie werden - wie schon 150 bakschischistanische Journalisten vor Ihnen, die etwas geschrieben haben, das dem Hampelmann nicht gefiel - ins Gefängnis verschleppt, in eine lichtlose Einzelzelle, weil Sie einen Witz gemacht haben, den der Führer von Bakschischistan nicht verstanden hat, und jemanden interviewt haben, den er nicht leiden kann. Und ob Sie jemals wieder freigelassen werden, hängt ganz von der Laune des Mannes ab, der das Land regiert. Eine Horrorvorstellung.

»Die Bundesregierung«, so werden Sie sich dann täglich in Ihren schlaflosen Nächten sagen, »wird bei all dem nicht tatenlos zusehen. Die Bundesregierung ist ein Rechtsstaat, in dem die Menschenrechte Gültigkeit haben. Schließlich haben wir ein Grundgesetz mit 19 Artikeln, die mir Rechte garantieren. Da wird ja wohl mindestens einer dabei sein, mit dem man mich hier rausholen kann.«

Das denken Sie! Pustekuchen! Bakschischistan ist ein Partner, aber das Grundgesetz ist nur ein Stück Papier. Als Partner bezeichnet man in der Bundesrepublik Länder, die die Drecksarbeit für einen erledigen und an denen man Geld verdient. So ein Partner ist Bakschischistan. Man unterhält, wie es so schön heißt, intensive Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Die gilt es nicht zu gefährden. Da wird dann auch nicht mehr genau gefragt, wer dort warum wie lange im Gefängnis sitzt. Er wird halt schon was ausgefressen haben. Küss die Hand, Herr Präsident!

Bakschischistan ist keine Erfindung.

Einer meiner Freunde vegetiert dort nun seit 100 Tagen im Gefängnis, in Einzelhaft, ohne das Recht, Post zu empfangen, ohne das Recht, anderen Post zu schreiben, ohne dass es überhaupt eine Anklage oder ein tatsächlich erkennbares Delikt gäbe, das ihm vorzuwerfen wäre. Sein Name ist Deniz Yücel. Er ist einer der herzlichsten und rührendsten Menschen, die ich in meinem bisherigen Leben kennenlernen durfte, und der leidenschaftlichste Journalist, der mir je begegnet ist. Sein Vergehen besteht darin, »Propaganda« verbreitet zu haben, d. h., in verständliche Sprache übersetzt, dass er in seinen Artikeln die Wirklichkeit beängstigend genau beschrieben hat.

Liebe Bundesregierung, ich wünsche dir weiterhin gute Geschäfte bei Tag und ein gutes Gewissen bei Nacht.

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