Das Vielnamige suchen

Dem Publizisten Friedrich Dieckmann zum 80. Geburtstag

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt ein Leiden unter den deutschen Intellektuellen, das heißt »unglückliches Bewusstsein« und befällt seit jeher vor allem Romantiker. Davon ist Friedrich Dieckmann, einer der wenigen (soll man sagen: letzten?) universell gebildeten Publizisten hierzulande gänzlich frei. Aus seiner ostdeutschen Sozialisation macht er, der am Donnerstag 80 Jahre alt wird, kein Geheimnis. Der Sohn des DDR-Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann ist immer beides (und mehr): Brechtianer und Bildungsbürger.

Friedrich Dieckmann besitzt die ausgeglichene Heiterkeit eines unzeitgemäßen Klassikers, der sich das Vertrauen auf die Zukunft nicht durch katastrophische Einreden, an denen es nie fehlt, nehmen lässt. Soeben hat er ein neues, höchst lesenswertes Buch vorgelegt: »Luther im Spiegel. Von Lessing bis Thomas Mann«. Darin beweist er sich wiederum als Autor, der, auf selbstentdeckten Seitenwegen wandernd, seine Leser zu überraschen vermag. Dieckmann gibt sich schreibend Rechenschaft über die Wege seiner Gedanken, bleibt ein Alleingeher, der die ausgetretenen Hauptstraßen der Meinungsmacher meidet. Die Wirkung seiner Texte beruht auf einer Originalität, die aus den Dingen selbst kommt und die zu bemerken die erste Tugend eines Autors von Rang ist.

Über Luther reden derzeit alle, aber wohl keiner so wie Dieckmann, für den er nicht zuletzt der »erste deutsche Ökonom« ist. In manchen Ohren mag es unerhört klingen, wenn er wie selbstverständlich schreibt, »Heinrich Heine erweist sich als der entscheidende Lutheraner der deutschen Literatur wie Hegel als der der deutschen Philosophie.« Man geht mit Dieckmann lesend auf Expedition und entdeckt dabei immer etwas, das man so noch nie sah und auch nicht glaubte, es so sehen zu können - und plötzlich ist es eine legitime Denkmöglichkeit.

Das macht den Essayisten von Rang aus, der nicht professoral ein kanonisiertes Wissen ausbreitet, sondern Nachfolger jener Gottsucher ist, die sich schließlich auf das Diesseits zu beschränken gelernt haben und hier das Geschäft der Grenzüberschreitung betreiben, mit einer Unbedingtheit der Wahrheitsnachfrage, die alles bislang wie selbstverständlich Dastehende nun als bloß eine Möglichkeit unter anderen zeigt. Am Anfang wie am Ende stehen immer die Fragen. So geraten die Dinge in Bewegung, die ihr natürlicher Zustand ist, an den wir uns nur immer wieder neu gewöhnen müssen.

Wer über Jahrzehnte so konzentriert arbeitet wie Friedrich Dieckmann, bei dem hat sich zu seinem 80. Geburtstag einiges angesammelt an Bausteinen jenes Denkgebäudes, das dem Erbauer zugleich selbstverständliche Lebensform geworden ist. Wen wundert es da, dass er vor einigen Jahren ein Buch im kleinen Dresdener Sandstein-Verlag über den Baumeister Pöppelmann veröffentlichte?! Der Titel lautet: »Pöppelmann oder Die Gehäuse der Lust«. Es zeigt den Essayisten als flanierenden Spurensucher durch verschiedene Zeiten und Gegenden, getreu dem selbstausgegebenen Motto: »Wir sind auf das Positive aus, auf das Gelungene, das Standhaltende, das Wiedergewonnene - wir sind auf Pöppelmann aus.« Womit vielleicht gemeint ist: Wir brauchen eine Kultur von Lebensräumen, die nicht bloße Repräsentationsräume wechselnden Zeitgeistes sind!

Wer 80 Jahre alt wird, der darf Erreichtes zusammenrechnen und wird - wenn er wie Dieckmann lebenslang nicht dem Kalkül, sondern innerer Neigung folgt - in Summa etwas finden, das eine eigene Werk-Gestalt besitzt, ebenso vom Eigenen wie von der Welt durchdrungen ist. Man lese seine beiden Bücher über Schiller, über Schubert, seine Arbeiten über Architektur und Musik (deren innerer Zusammenhang dabei vor Augen tritt), das höchst ungewöhnliche Buch »Die Geschichte Don Giovannis« oder auch die Collage »Wagner in Venedig«. Immer folgt hierbei die Form dem, was inhaltlich verhandelt wird - aber die Form, wo sie sich uneitel in den Dienst des Verstehens stellt, gibt dem Gesagten auch den Rhythmus vor, verleiht Klangfarben, die sogar banale oder hässliche Gegenstände nobilitieren. Solche wie die Politik, die für Dieckmann als Teil von Zeitgeschichte beschreibbar wird.

Und hierbei blättere ich in drei seiner Aufsatzbände, die in der edition suhrkamp erschienen sind und deren Titel allein schon verraten, wie der Autor sich den meinungs- und ideologiekontaminierten Themen zu nähern gedenkt: »Vom Einbringen vaterländischer Beiträge« (1992), »Was ist deutsch? Eine Nationalerkundung« (2003) oder »Glockenläuten und offene Fragen« (1991). Hier zeigt sich die Utopieräumigkeit Dieckmanns, der einst in Leipzig bei Bloch studierte und sich ureigenste Themen nicht von jenen fortnehmen lassen will, die daraus immer nur Kurzschlüsse zu ziehen vermögen. Der Aufsatz »Recht zu träumen« hebt an: »Wie anders als kaleidoskopisch vom Traume reden? Kaleidoskopisch ist die Struktur des Traums - leuchtende Splitter, jäh zusammentretend, abrupt zerfallend, Muster und Formen bildend, die das Bild der Wirklichkeit in phantastischer Entstellung, Erhellung durchblicken lassen.«

Auch das mit Hysterien von links und rechts besetzte Thema der Nation ist für Dieckmann eines, das er in den Fluss der Zeit und der Gedanken stellt. Der deutsche Patriotismus ist für ihn nichts, was man rechten Ressentiments überlassen darf. Das hebt mit Schiller an und endet bei Brecht, Becher oder Eisler keineswegs.

Der Intellektuelle ist für Dieckmann jemand, der dem lärmenden Tagesgeschäft von Politik und Wirtschaft einen Raum stiller Reflexion entgegensetzt, wo es nicht darum geht, rechtzuhaben, oder kopflos-aktionistisch etwas zu tun, sondern eine Perspektive für die Zukunft zuerst einmal zu denken - so frei wie die Gedanken für uns Kinder der Aufklärung sein sollten. Wider eine Verdachtsunkultur, das Vergiften von Gespräch, wo der Andersdenkende reflexartig herabgesetzt wird als Schlechtmeinender, den man nicht hören will.

Das ist der Beruf des Intellektuellen und Dieckmann, der heitere Vermesser von Maß und Form, nimmt ihn ernst. Wohlwissend, es waren Emigranten, die nach der Befreiung von der NS-Diktatur heimkehrend dichteten und komponierten: »Heimat meine Trauer, Land im Dämmerschein, / Himmel, du mein blauer, du, mein Fröhlichsein.« Becher kam aus der Sowjetunion, Eisler aus den USA. Sie waren Davongekommene, Gezeichnete auf der Suche nach einem Frieden, der beheimatet, aber nichts vergisst. Eisler hatte 1943 den »Gesang eines Deutschen« komponiert und erinnert sich: »Als ich Brecht das vorspielte, war er entsetzt über meinen Nationalismus. Es hat mich gereizt, in der Stunde der tiefsten Erniedrigung dieses Volkes, dem ich ja leider angehöre wie Sie; ich kann ja nicht austreten. ... Ich sagte mir, wenn ich zurückkomme, will ich sagen: ›Ihr Scheißkerle! Aber immerhin hab ich für euch etwas komponiert!‹« Auch so kann man die Berufung als Künstler verstehen.

Für Friedrich Dieckmann ist gelassene Selbstverständlichkeit der angemessene Rahmen, in dem man über das Nationale und das Internationale sprechen sollte, der ärgste Feind, den man haben kann, ist immer zuerst die eigene Borniertheit, die hybride Neigung, sich selbst für unschuldig und andere für schuldig zu halten. Über den Typus der »verfolgenden Unschuld« hat er Überlegungen angestellt, die jeder selbst nachlesen sollte.

Es ist ein alter Traum der Aufklärung: die Zerstörung der Vorurteile, um so dem Wesen der Dinge, das nie einnamig, sondern vielnamig ist, nahe zu sein. Friedrich Dieckmann gehört zu denen, die diesen Traum träumen - und denen die Sprache dabei eine Musik ist, die man zu hören lernen muss. Herzlichen Glückwunsch!

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