Flüchtlinge leben in ständiger Angst

ARI-Dokumentation: Opferzahl sprunghaft gestiegen

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 4 Min.

Meist sind es mehrere Gewaltvorfälle täglich, die die Dokumentation der Antirassistischen Initiative Berlin für das Jahr 2016 aufführt. Vor allem nahmen demnach die Angriffe auf minderjährige Flüchtlinge im öffentlichen Raum zu. Ihre Zahl habe sich im Jahr 2016 mit 134 verletzten Minderjährigen im Verhältnis zum Jahr 2015 (23 Körperverletzungen) fast versechsfacht, stellen die Verfasser fest. Doch auch unabhängig vom Alter der Betroffenen sei die Zahl der auf den Straßen verletzten Flüchtlinge deutlich angestiegen: auf die doppelte Zahl von 505 gegenüber 242 im Jahr 2015; schon dies war eine deutliche Steigerung gegenüber 72 Verletzten im Jahr 2014 gewesen.

Seit dem Beginn der Untersuchung im Jahr 1993 registrierte die Initiative mittlerweile 217 Flüchtlinge, die sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung töteten oder beim Versuch starben, vor der Abschiebung zu fliehen, fünf starben während der Abschiebung - praktisch unter Aufsicht der Behörden. Und 1875 Flüchtlinge verletzten sich aus Angst vor ihrer Abschiebung oder aus Protest dagegen.

In der Sammlung finden sich Fälle gewalttätiger Übergriffe auf Minderjährige, Suizide und Selbstverletzungen, Beispiele polizeilicher Gewalt, unterlassener Hilfeleistung sowie Misshandlungen in Unterkünften. Hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) im April mit der Polizeilichen Kriminalstatistik einen Zuwachs an gefährlicher und schwerer Körperverletzung belegt und hier den überdurchschnittlichen Anteil straffälliger Flüchtlinge hervorgehoben, macht die Antirassistische Initiative mit ihrer Dokumentation praktisch eine Gegenrechnung auf. Auch de Maizière hatte eingeräumt, dass Gewalt von Flüchtlingen vor allem gegen Flüchtlinge ausgeübt werde und zur Begründung auch deren permanente Ausnahmesituation genannt. 2015 und Anfang 2016 war die Zahl der straffällig gewordenen Flüchtlinge um 52,7 Prozent gestiegen.

Erfasst sind dabei nur die polizeilich ermittelten, an die Staatsanwaltschaft übergebenen Fälle. Die Bundesregierung weiß überdies von 3500 Übergriffen auf Flüchtlinge und Asylunterkünfte im Jahr 2016, wie aus ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der LINKEN im Bundestag hervorgeht. Durchschnittlich sind dies zehn gemeldete Übergriffe täglich, die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen.

Erhebungen wie die der Antirassistischen Initiative machen dies deutlich. Eine knappe Handvoll Menschen ist es, die aus öffentlich zugänglichen Quellen die Beispiele für die »tödlichen Folgen bundesdeutscher Flüchtlingspolitik« sammelt, wie es im Titel der Dokumentation heißt. Bereits im 24. Jahr wurden für die Dokumentation Zeitungen, Onlineportale oder Material von Opferinitiativen ausgewertet. Sie liegen nun in einer weiteren Ausgabe vor. Über 9000 Geschehnisse sind seit 1993 erfasst. Sie spiegeln nach Überzeugung der Verfasser »die Lebensbedingungen wider, unter denen die schutzsuchenden Menschen in der Bundesrepublik leiden«. Der Zusammenhang zwischen Taten auf der Straße und der abweisenden deutschen Flüchtlingspolitik ist dabei für die Opfer offenbar evidenter als für öffentliche Stellen. Angestellte von Sicherheitsfirmen, die an Übergriffen beteiligt sind, werden von den Opfern mit der staatlichen Autorität gleichgesetzt. Wie im thüringischen Mühlhausen, wo Misshandlungen in der Unterkunft »einerseits von im Heim wohnenden Männern, andererseits durch Mitglieder der Sicherheitsfirma« ausgingen.

Auch unterlassene Hilfe findet sich in verschiedenen Varianten. Einem vierjährigen Kind in bedrohlicher Situation wurde Paracetamol verabreicht, die nötigen Maßnahmen zur Lebensrettung wurden versäumt. Das Kind starb. Als ein 28 Jahre alter Tunesier im erzgebirgischen Aue auf das Dach eines viergeschossigen Wohnhauses kletterte, um der Abschiebung zu entgehen, dauerte es Stunden, bis der lebensmüde Mann gerettet wurde. Laut Zeitungsberichten beschwerten sich Anwohner, dass ihm Zigaretten und Nahrung gereicht wurden, außerdem darüber, dass der einzige im Dienst befindliche Notarzt »durch diesen Einsatz gebunden war«.

Die Zunahme der dokumentierten Fälle ist allein am Umfang der Dokumentation ablesbar. Die 80 Seiten der Ausgabe im letzten Jahr stellten bereits eine Verdoppelung gegenüber 2015 dar. Jetzt ist die Sammlung auf drei Bände angewachsen und umfasst 120 Seiten. Die Mitarbeiter der Antirassistischen Initiative hoffen auf Unterstützung und Mitarbeit durch Gleichgesinnte, um ihre Arbeit fortsetzen zu können.

»Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen« sowie Kontakt unter www.ari-berlin.org

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