nd-aktuell.de / 04.06.2017 / Kommentare

Unsere Art zu leben

René Heilig über die tiefen Spuren, die der Terrorismus in die Gesellschaften gräbt, und wie dabei lang erkämpfte Freiheitsrechte ausgehöhlt werden

René Heilig

Wieder ein Anschlag. Während die meisten Menschen ohnehin sprachlos ob der Brutalität sind, gehen selbst Politikern langsam die Worte aus. Ihre Beileids- und Solidaritätsbekundungen, die zugleich Stärke und Zuversicht vermitteln sollen, werden immer mehr zu kraftlosen Phrasen. Wie war das? Gemeinsam werden wir standhalten... Wir beugen uns nicht jenen, die Tod bringen... Alle Maßnahmen werden getroffen, um… Jede nur erdenkliche Hilfe…

Und immer wieder diese eine Formulierung: Die Terroristen werden uns niemals unsere Art zu leben, nehmen können. Mag sein, dass man im Wahn eigener Überlegenheit daran noch glaubte, als dieser Terrorismus aus den globalen Kriegs- und Krisengebieten in die Welt »des Westens« einbrach. Das ist Jahre her. Aber glaubt heute jemand noch ernsthaft daran? Ein Narr, wer meint, mit derartigen Sprüchen könne man noch immer Vertrauen in wehrhafte Politik und das Agieren der Sicherheitsbehörden stärken.

Ohne Zweifel, die Attacken vom 11. September 2001 gegen die USA waren ein Fanal. Neue Generationen von Fanatikern verschiedener Ausrichtungen und Herkunft sind seither herangewachsen, in losen Netzwerken oder mitunter auch bloß in der Absicht vereint, andere Menschen zu töten. Oft schlagen sie in ihrem Umfeld zu, dort, wo sie aufgewachsen sind. Den Zeitpunkt und den Ort bestimmen sie. Sie sind gnadenlos, machen keine Unterschiede zwischen Jungen und Alten, zwischen Kindern, Frauen, Männern.

U-Bahnen und Busse werden in die Luft gesprengt, Rucksackbomber lauern Kindern nach Konzerten auf, trainierte Teams greifen in Paris oder Brüssel ganze Stadtbezirke an. In Moskau nahm man Hunderte Besucher eines Varieté-Theaters als Geiseln, Fanatiker steuern Lkw in Menschenmassen, ein Mädchen stach auf einem Provinzbahnhof einen schwer bewaffnete Polizisten nieder, ein junger Mann tobte sich mit dem Beil in einem Regionalzug aus. Dort, wo »der Westen« - wie im afghanischen Kabul - seine Strategie der »Vorwärtsverteidigung« verfolgt, verwüsten zu allem Entschlossene mit ihren rollenden Bomben sogar extrem gesicherte Hauptstadtteile.

Und vergessen wir nicht: Die Bedrohung in unserer Gesellschaft kommt wahrlich nicht nur von jenen, die sich Allah und seiner Allmacht opfern wollen. Mitbürger werden von Leuten ermordet, die sich als Angehörige einer zur Herrschaft berufenen, besseren »Rasse« verstehen - und bedauern, dass sie zu spät geboren wurden, um die schwarz-blutige Uniform der SS zu tragen. Sie richten Menschen hin, zünden das Obdach von Flüchtlingen an.

Es heißt, wenn wir dem islamistisch geprägten Terror nachgeben würden, arbeiteten wir den Terroristen in die Hände. Das stimmt. Doch genau das geschieht doch. Wahlkämpfe werden unterbrochen, um alsbald noch stärker von Terrorangst dominiert, wieder anzuheben. Man sagt Fußballspiele ab, Konzerte verstummen, man stellt Betonblöcke in Fußgängerzonen auf, hinter denen Menschen ausgelassen und fröhlich feiern sollen. Polizisten tragen kugelsicher Westen und Maschinenpistolen. Das sind nur einige äußerliche Zeichen der Veränderung, und auch von rapide sinkender Lebensqualität.

Rettungswagen sind in permanentem Alarmzustand. Vorgehalten werden Geräte zur Abwehr atomarer, biologischer und chemischer Attacken. Sarin wirkt ja nicht nur in syrischen Dörfern tödlich. Zudem versucht man, die Computersysteme wichtiger Infrastruktursysteme zu härten. Nicht nur staatlich bezahlte Hacker greifen Krankenhäuser, Signalketten der Bahn oder Wasserwerke an.

Hinzu kommt: Gigantische Überwachungsprojekte laufen. Zumeist sind sie sogar legal, denn per Gesetz erlauben Parlamente es den Behörden, in fremden Computern zu schnüffeln. Man beobachtet mit Kameras nicht nur jeden Winkel unseres Alltags, sondern beginnt bereits, tagtäglich Millionen Menschen zu vermessen, um sie mit gespeicherten biometrischen Vorlagen zu vergleichen. Der US-Präsident will anlasslos Bürgern mehrerer Länder den Aufenthalt »in Gottes eigenem« Land verwehren. Grenzenlos reisen - ist auch in Europa längst eine Fiktion. Noch bevor man in ein Flugzeug steigt, wissen Geheimdienste, was man an Bord speisen will.

Und wahrlich, nicht alle jetzt ergriffenen Maßnahmen sind der Abwehr von Terror geschuldet. Der dient allzu oft als Vorwand. Aufgrund der Angst um sein und das Leben kommender Generationen sind Bürger bereit, Rechte freiwillig abzugeben, die zuvor zäh erkämpft werden mussten. Entsprechend großzügig formulieren Hardliner Gesetze bereits auf Vorrat. Für jede Eventualität gleich mehrere. Abstimmungen im Akkordsystem beschäftigen die Parlamente. Die sich dann von jeder Verantwortung freisprechen mit dem durchaus richtigen Satz: Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit.

Das ist Normalität geworden. Also unsere Art, zu leben.

Die - einst in der Tat zumeist relativ zivilen - Gesellschaften des sogenannten Westens haben bereits einen erheblichen Teil der bürgerlichen Freiheiten geopfert. Das ist zweifellos ein Sieg des Terrorismus. Der bestimmt zu einem Gutteil den Fortgang der Geschichte, auch weil die politischen Systeme »des Westens« so berechenbar reagieren. Unter anderem mit Krieg. Soldaten werden exportiert, sie werfen Bomben, feuern Raketen, so etwas bildet auch neue Killer aus. Derweil verkaufen die Konzerne Waffen. Regierungen stimmen zu, angeblich, um eigene Sicherheitsinteressen zur Geltung zu bringen. Auge um Auge, und auch: Terror gegen Terror.

Die, die jetzt im Wochenrhythmus erzählen, wie sie die Bürger mit ihrer ebenso klugen wie konsequenten Anti-Terror-Politik schützen wollten, ignorieren mit geradezu verbrecherischem Starrsinn, dass Bildung, dass sauberes Wasser, Nahrung, Medizin und vor allem selbstbestimmte Arbeit auf lange, sehr lange Sicht die einzig wirksamen Waffen gegen Terrorismus sind. So es solche überhaupt gibt.