Terror - doch der Wahlkampf in Großbritannien geht weiter

Der Islamische Staat übernahm die Verantwortung für den siebenfachen Mord

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Die London Bridge - jahrhundertelang war sie das einzige Bauwerk, das beide Themse-Ufer miteinander verband. Auch am Samstagabend fotografieren Touristen in offenen Bussen wie wild, sie wollen die Nachttour für ihre Liebsten in Toronto oder Tokio erlebbar machen. Passanten bummeln den Bürgersteig entlang, in den Bars der Umgebung erfreut sich die multinationale Gemeinschaft des schönen Sommerwetters.

Doch dann das Inferno: Drei mutmaßliche Islamisten überfahren mit einem weißen Transporter Ahnungslose, stürzen, angeblich unter Allah-Geschrei, in Kneipen, erstechen und verwunden wahllos Frauen und Männer. Besucher und unbewaffnete Polizisten stellen sich den Terroristen in den Weg. Nach nur acht Minuten kommen Spezialeinheiten, die die drei Attentäter erschießen.

Sieben Opfer, darunter als Erstgenannte die kanadische Sozialarbeiterin Chrissy Archibald, bleiben tot zurück. Auch eine Französin soll zu den Ermordeten gehören. Weitere 36 zum Teil schwer Verletzte liegen auch am Montagabend noch im Krankenhaus.

Ein handgemaltes Schild an der Mordstätte trifft nach Meinung vieler Einwohner den richtigen Ton: »London: Wag’ es, weiter zu lieben.«

Die Terrormiliz Islamischer Staat übernahm die Verantwortung für den Anschlag. Das Bekenntnis auf Arabisch hat das IS-Sprachrohr, die Amak-Internetseite, veröffentlicht. Die Täter sind der Metropolitan Police angeblich bekannt. Diese hat am Montag in den Stadtvierteln Newham und Barking Durchsuchungen vorgenommen und mehrere Verdächtige verhaftet. Bereits am Sonntag waren Einsatzkräfte zu Razzien in das multiethnische Viertel Barking ausgerückt. Dabei sind sieben Frauen und fünf Männer im Alter zwischen 19 und 60 Jahren verhaftet worden. Ein 55-Jähriger Mann wurde wieder freigelassen.

Es ist eine Tatsache - im bosnischen Srebrenica, in Irak und anderswo auf der Welt sind Tausende unschuldige Muslime gestorben. Im ersten Fall durch unterlassene Hilfeleistungen des Westens, im zweiten durch direkte Schuld der US-amerikanischen und britischen Invasoren. Aber das rechtfertigt Mordtaten wie die in London nicht. Das haben auch Vertreter britischer Muslim-Gruppen wiederholt festgestellt.

Dass sich der sogenannte Islamische Staat der Terrortaten rühmt, vor dem Attentat gar Anweisungen dazu gegeben haben will, darf jedoch nicht zu überzogenen Reaktionen gegen Muslime insgesamt führen. Genau solche Provokationen haben die Hintermänner der Terroristen im Sinn. Premierministerin Theresa May von den konservativen Torys spricht von einem Angriff auf Britannien und die freie Welt. Doch: Geduldige Polizisten- und Aufklärungsarbeit sei wichtiger, hört man auch aus Regierungskreisen. May will das »Prevent«-Programm sowie die Hausarrest-»Terror-Präventions- und Untersuchungsmaßnahmen« (T-Pins) verstärken.

Am Sonntag versammelte sie in der Downing Street die Presse, um diese Gedanken aus dem im Wahlkampf geltenden Tory-Parteimanifest vorzulesen. Es ist also keineswegs so wie behauptet, dass der Wahlkampf ruht. Vermutlich wollte May vergessen machen, dass sie selbst sechs Jahre lang als Innen- und nun ein Jahr lang als Premierministerin für den Schutz ihrer Landsleute verantwortlich gewesen ist. »Das Leben unserer Demokratie muss weitergehen«, sagte sie. Steve Hilton, einst innenpolitischer Chefberater von Mays konservativem Vorgänger David Cameron, rät daher der Premierministerin, sie solle keine Wiederwahl anstreben, sondern sofort zurücktreten.

Auch die Labour-Party sieht das so. Deren Chef Jeremy Corbyn meinte: »Wir können die Bevölkerung nicht billig beschützen.« Er forderte 10 000 neue Stellen bei den Ordnungsschützern. Er geißelte gleichfalls die feige Mordtat, rief aber allgemein zur Mäßigung auf - vor allem gegenüber der überwältigenden Mehrheit der unschuldigen Muslime im Land.

Die konservative Zeitung »Daily Express« druckte derweil Mays Reaktion »Genug ist genug!«, als ob die Premierministerin mit dieser Botschaft direkt vom Berg Sinai herabgestiegen wäre. Man spekuliert, ob das Thema innere Sicherheit in den Tagen bis zur vorgezogenen Wahl am Donnerstag den prognostizierten konservativen Sieg höher ausfallen lassen könnte. Denn Labour hat es jetzt noch schwerer, mit sozialen Themen Gehör zu finden.

Die City Hall, Sitz der Londoner Stadtregierung, hat mal wieder halbmast geflaggt und Labours Oberbürgermeister Sadiq Khan rief für den Montagabend zu einer Schweigeminute auf. Der Bahnhof London Bridge sowie die Borough High Street, Schauplatz der Mordangriffe, waren derweil schon wieder freigegeben.

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