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Mit warmem Tee fängt Familie an

Wie sich muslimische Gemeinden in der Flüchtlingshilfe engagieren

  • Fabian Köhler
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Mann am anderen Ende der Auslegware hat alles gegeben. Er hat sich in Rage geredet und ans Gewissen appelliert. Er hat große Worte über hunderte Köpfe geschmettert und kleine Taten von jedem einzelnen gefordert. Doch als die Predigt nach 45 Minuten zu Ende geht, fällt Nour nur ein Wort ein: «langweilig». Und dann doch noch zwei: «wie immer». Nour ist 27, ehemaliger Bodybuilder, gescheiterter Anglistik-Student, dreifacher Bruder, hundertfacher Cousin. In dieser Reportage ist er aber vor allem eines: Flüchtling. Einer, für den sich der Journalist dann interessiert, wenn er wissen will, was Leute wie er von Muslimen halten, die Leuten wie ihm helfen.

Beten in der Tiefgarage

Der Ort von Nours Langweile ist ein Gebetsraum, der nur zufällig denselben Namen trägt: die Al-Nour-Moschee im Hamburger Stadtteil St. Georg. Eine Moschee, auf die Journalisten stoßen, wenn sie wissen wollen, wie Muslime in Deutschland mit Flüchtlingen wie Nour umgehen. Auch sie steht für Gewaltiges: Von 300 auf 2500 Gläubige wuchs ihre Mitgliederzahl in den letzten Jahren an. Gebetet wird deshalb im Schichtdienst. Als Hamburgs größtes inoffizielles Erstaufnahmelager für Flüchtlinge wurde sie während der gleichnamigen Krise gepriesen. An diesem Freitagnachmittag versprüht der flache neonbeleuchtete Raum allerdings allenfalls den Charme einer Tiefgarage. Kein Wunder - schließlich war er einmal genau das: eine ehemalige Tiefgarage, deren Teppiche, Schuhregale und Ventilatoren nur schwer die eigentliche Bestimmung verhehlen könne.

Wenn Geschichten wie die vom Flüchtling Nour und der Al-Nour-Moschee medial aufeinandertreffen, enden sie oft in alarmistischen Texten über demokratiefeindliche Predigten. Islamkritiker warnen dann vor islamistischen Rattenfängern. Und besorgte Leser denken an bärtige Salafisten, die vor der Erstaufnahmeeinrichtung Koranexemplare verteilen. Wenn Nour an Muslime denkt, die Flüchtlingen helfen, denkt er hingegen an Tee. Warmen Tee.

«Im Winter 2015/ 2016 kamen sie vor unser Flüchtlingslager und fragten, ob wir Hilfe bräuchten», erinnert sich Nour an das erste Mal, als er bewusst mit einer Gruppe muslimischer Flüchtlingshelfer in Kontakt kam. «Sie standen ein paar Stunden vor dem Tor, schenkten Tee aus, halfen beim Übersetzen von Formularen und fuhren wieder weg.» Dass es sich um Muslime handelte, habe er später erst von einem Freund erfahren. Es ist nicht schwer zu erahnen, dass diese Freitagspredigt nicht die erste war, mit der Nour nicht viel anfangen konnte. Tragen die meisten der noch wenigen anwesenden Männer Bart zum Koran - oder zumindest zur Koran-App -, hält Nour einen Science-Fiction-Roman unter dem rasierten Kinn. «Zu Hause war ich nur selten in einer Moschee, aber schreib das nicht auf. Oder doch schreib, der Imam will ja, dass wir ehrlich sind.»

Nours «Zuhause» ist Kobane. Eine jener syrischen Städte, die keine guten Erfahrungen mit bärtigen Männern machten. «Am Anfang haben wir auch gegen Assad demonstriert, wir dachten sogar, wir könnten gewinnen. Aber dann kam Daesh und nahm uns alles wieder weg», sagt Nour und erzählt von jener Zeit, als erst Gerüchte über Massaker und schließlich die Granaten des Islamischen Staates aus den Nachbardörfern in der kurdischen Stadt einschlugen. «Warum ich geflohen bin? Was würdest du machen, wenn durch Hamburg hunderte Kämpfer laufen, die rufen: ›Wir töten alle Männer und verkaufen eure Frauen auf dem Sklavenmarkt von Raqqa?‹»

Ein Stapel Sorgen unterm Arm

Menschen, die allzu offensives muslimisches Engagement für Flüchtlinge skeptisch sehen, könnten Nours Geschichte so lesen: Säkularer Kurde flieht vor sunnitisch-arabischen Terroristen und landet ausgerechnet in einer sunnitisch-arabischen Moschee, die zumindest dem theologischen Verständnis nach eher als konservativ gilt. Ist das die richtige Instanz, sich seiner Sorgen anzunehmen, der richtige Ort für einen Start in ein neues Leben?

In einem durch dünne Holzwände abgeteilten Büroverschlag leistet Abdellah Benhammou Starthilfe im Akkord. Ein Syrer mit einem Stapel Sorgen unter dem Arm bittet um die Übersetzung seines Mietvertrages. Ein Arabisch sprechender Mann wartet auf einen Termin zur Eheberatung.

Kurze Haare, frisch rasiert, grauer Anzug, schwarzes Hemd, oberster Knopf offen. Typ: irgendwas zwischen Kundenberater bei der Bank und Personal Trainer. Auf den ersten Blick entspricht auch Moscheevorstand Benhammou nicht dem Klischee vom bärtigen Muslim, der in einem Hinterhof hilflose Migranten missioniert. Auf den zweiten Blick auch nicht. «Bei manchen Flüchtlingen haben wir Sorge, dass sie abdriften. Wir sagen ihnen, warum die Salafisten falsch liegen; dass in Deutschland Platz für jeden ist; dass sie ihre Wut nicht gegenüber anderen ablassen brauchen.»

Benhammou ist Flüchtlingsbeauftragter der Al-Nour-Moschee. Als im Herbst 2015 nur wenige Gehminuten entfernt am Hamburger Bahnhof jeden Tag hunderte Flüchtlinge ankamen, machte er den Gebetsraum der Moschee zum Flüchtlingslager. Bis zu 500 Flüchtlinge fanden hier Zuflucht. Jede Nacht. «Erstmal nach St. Georg» riefen sich Flüchtlingshelfer am Bahnhof zu, wenn die städtischen Unterkünfte mal wieder voll waren. Hunderte Schlafsäcke, tausende Mahlzeiten und zehntausende Euro für die Stromrechnung organisierte Benhammou zu dieser Zeit. Vorbei sei die Flüchtlingskrise für ihn aber auch heute noch nicht, sagt er, während der nächste Flüchtling einen Stapel Sorgen durch die Tür seines Büroverschlages trägt.

Hilfe gefunden

Wer verstehen will, warum Moscheen wie die Al-Nour selbst für säkulare Muslime wie Nour so attraktiv sind, muss die religiöse Brille abnehmen. Nours Weg in den unterirdischen Gebetsraum begann nicht mit dem Versagen der Mächtigen in Nahost, sondern mit dem Versagen der Mächtigen in Hamburg. Wie zehntausende Andere hatte auch ihn ein Schlauchboot über die Ägais von der Türkei nach Griechenland gebracht. Zu Fuß durchlief er den Balkan. Seine Flucht endete in einem Erstaufnahmelager für Flüchtlinge im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg. Zumindest glaubte er das.

Am Rande eines Autobahnzubringers hatte dort das kommunale Unternehmen «Fördern und Wohnen» eilig ein Zeltlager für mehr als 1500 Flüchtlinge errichtet. «Zwei Wochen», hieß es zu Anfang. Am Ende blieb Nour über ein Jahr: «Es war schlimm. In der Nacht froren wir, und am Tag wussten wir nichts mit uns anzufangen. Mehrmals beschweren sich die Flüchtlinge bei den Verantwortlichen über die Kälte in den ungeheizten Zelten; darüber, dass trotz 40 Grad Fieber kein Arzt zu erreichen sei. Zweimal organisieren sie einen Sitzstreik vor dem Camp. Lokalmedien berichten. Doch Hilfe habe er erst gefunden, als ihn ein Freund mit in die Moschee nahm.

»Die Leute in der Moschee sind meine Familie«, sagt Nour, dessen Worte umso eindringlicher wirken, wenn man weiß, dass das, was ihm von seiner echten Familie bleibt, auf ein Smartphone-Display passt. Eine Umfrage der Hamburger Schura, eines Islamverbands, der 36 der rund 60 Hamburger Moscheen vertritt, ergab: Die Nours sind nicht die einzige Familie dieser Art. Fast alle Moscheen in Hamburg helfen. Einige, indem sie Freiwillige an Bahnhöfe oder in Unterkünfte schicken. Andere öffneten ihre Türen so weit, dass sie aufgrund der Kosten am Ende selbst Überlebenshilfe brauchen. Eine Befragung der Bertelsmann-Stiftung ergab kürzlich zudem: Fast jeder zweite Muslim in Deutschland engagiert sich für Flüchtlinge. Unter Nicht-Muslimen ist es kaum jeder Fünfte.

Warum das so ist? Darauf gibt es auch bei den Nours mehrere Antworten. »Ich bin 1993 nach Mecklenburg-Vorpommern gekommen, kurz nach der Wende. Du kannst dir denken, was da los war. Ich will die Neuankömmlinge vor solchen Erfahrungen bewahren«, sagt Benhammou in seinem kleinen Büroverschlag in der Al-Nour-Moschee. Und Nour fügt hinzu: »Wenn du einmal in einem Hamburger Flüchtlingslager warst, dann macht es dir auch nichts mehr aus, in einer Tiefgarage zu beten.«

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