Evos Stunde

Der linke Präsident Morales hat der Armut in Bolivien den Kampf angesagt - doch es gibt auch Kritik an seinem Regierungstil

  • Georg Ismar, dpa
  • Lesedauer: 8 Min.

Cochabamba. Im Warteraum der Luftwaffe läuft eine TV-Show über das Aufmotzen von Oldtimern. »Discovery Turbo« heißt das Programm. Nach Turbo sieht es nicht gerade aus, als um 4.45 Uhr der Präsident in den Raum schlurft. »Buenos dias, yo soy Evo«. Ein Gähnen, etwas ungeordnetes schwarzes Haar, ein Soldat salutiert müde. Dann geht es rüber in den Regierungsflieger des Plurinationalen Staates Bolivien.

»Es la hora Evo«, meint Evo Morales. »Evos Uhrzeit«. Oder, das passt fast besser: »Evos Stunde«. Denn immer in der fünften Stunde des neuen Tages beginnt sein Arbeitsprogramm. Er schläft nur vier, fünf Stunden. Unterlagen hat er nicht dabei, nur zwei Smartphones. Kein Sprecher, keine Entourage ist hier in Cochabamba anwesend, wo er einen Zweitwohnsitz hat. Er ist berüchtigt, Pläne umzuschmeißen. Der Pilot versichert sich, wo es denn hingehen soll. »Nach Santa Cruz«.

Sein Alltag? Montags um 05.00 Uhr: Treffen mit den Spitzen von Militär und Polizei. Dienstags um 05.00 Uhr: Kabinett. Mittwochs oder donnerstags um 05.00 Uhr: Treffen mit den Spitzen des Kongresses. Steht kein Termin um 05.00 Uhr an, startet er - wie an diesem Tag - zu Reisen durchs Land, um wieder ein paar neue Projekte zu übergeben.

»Wir müssen raus ins Leben. Da, wo es brodelt, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt« sagte 2009 der neue SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Während in Europa viel von der Volksferne der politischen Elite die Rede ist, will Morales täglich am Ohr des Volkes sein. »Ich habe von meiner Familie gelernt, dass man immer vor dem Sonnenaufgang aufgestanden sein muss.« Für eine Ehefrau und Familie hat er keine Zeit. »Ich bin mit Bolivien verheiratet«, lautet Morales' Mantra.

Bolivien wächst und wächst, das höchste Wirtschaftswachstum in Südamerika seit vier Jahren - der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet mit mindestens vier Prozent in diesem Jahr. Das größte Seilbahnnetz der Welt zwischen der Satellitenstadt El Alto und La Paz hat manches Verkehrsproblem gelöst. Neue Flughäfen, Straßen - dank der Verstaatlichung von Industrien wie dem Erdgassektor.

Morales Investitionsprogramm heißt übersetzt: »Bolivien ändert sich - Evo löst Versprechen ein.« Der Höhepunkt an diesem Tag ist sein Einschweben per Hubschrauber in Comorapa, ein neuer Kunstrasenplatz und eine neue Straße sollen eingeweiht werden. Der Fußballplatz voll von Menschen. Eine Hundertschaft Soldaten steht Spalier, blecherne Marschklänge ertönen. Morales schreitet die Reihen hab, dann ruft er, etwas kopiert von Kubas Fidel Castro: »Patria o muerte?«, »Vaterland oder Tod?«, die Soldaten brüllen: »Venceremos« - »Wir werden siegen.« Dann dröhnt die Nationalhymne aus den Boxen, gereckte Faust bei Evo.

Unter großem Jubel verspricht Morales die Gründung eines Instituto de Technologia in Comorapa. Was sich dahinter verbirgt? Damit nicht noch mehr kluge junge Köpfe vom Land in die Städte abwandern, werden gerade überall auf dem Land in Bolivien neue Fachinstitute für Spezialausbildungen gegründet. In Comorapa mit dem Schwerpunkt Agrar, Ernährung und ökologischer Landbau, woanders für Fischerei oder moderne Erdgasförderung - je nachdem, wovon die Region geprägt ist.

Nach Tänzen und Reden stehen rund 50 Frauen und Männer mit prall gefüllten Körben voller Obst und Gemüse an, um sie dem Staatschef zu überreichen. Ein neben ihm sitzender lokaler Gewerkschaftschef will bei der Annahme helfen und bricht unter der Last einer riesigen Melone fast zusammen, die Parlamentspräsidentin Gabriela Montaño ist vor lauter Bananenstauden auf ihrem Schoß kaum noch zu sehen.

Das gehe alles in den Präsidentenpalast, verkündet eine Stimme. Evo bekommt Blumenkränze umgehängt. Und reicht Korb für Korb nach hinten an seine Helfer weiter. Hinter der Bühne stehen zwei Pick-Ups, in die alles eingeladen wird. Geht das denn echt nach La Paz? »Nein, Nein«, sagt ein Helfer. »Das bringen wir um die Ecke, zu einer Kaserne.«

Rasch wirft Morales noch einen Tonkrug mit Maisbier (Chicha) auf einen Evo-Gedenkstein, ein Tusch ertönt, das Militär hält die Menge ab, er herzt einen Greis, dann geht es wieder zum Hubschrauber. Dort interessiert ihn vor allem eins: Die Zahl der Follower bei Twitter. Über 185 000, bis August sollen es 200 000 sein. Nicht viel für einen Präsidenten, aber er hat erst 2016 die Macht des Nachrichtendienstes entdeckt. Sein Name: »@evoespueblo« - übersetzt: »Evo ist das Volk.«

Geboren am 26. Oktober 1959 in einer kargen Adobe-Lehmhütte in Orinoca auf dem Altiplano, dem Hochland Boliviens, hat er allen Unkenrufen getrotzt. Was wurde er belächelt, als er anfangs mit gestreiften Wollpullovern neben dem US-Präsidenten oder dem spanischen König stand. Er, der lange als Kokabauer sein Geld verdiente, bevor er von der Straße aus mit seinem Movimiento al Socialismo (MAS) 2006 die Macht eroberte.

Die weiße Oberschicht hielt den Idigenen aus dem Aymara-Volk für eine lächerliche Episode, nun regiert er so lange wie kein Präsident seit der Gründung der Republik 1825. Der erste Präsident, der Befreier von der spanischen Kolonialmacht, Simón Bolívar, hielt übrigens kein halbes Jahr durch.

Aber auch sein Ruf bröckelt: Ein millionenschweres Museum in seinem Geburtsort mit Devotionalien und Geschenken von Staatsgästen sorgte für böses Blut. Die Gesundheitsversorgung ist noch immer nicht ausreichend, wegen der Höhenlage gibt es überproportional viele Kinder mit Herzproblemen. Die Kirche fühlt sich gegängelt, es ist die Rede von autoritären Tendenzen. Zuletzt machte ein millionenschwerer Skandal um den staatlichen Öl- und Gaskonzern YPFB Schlagzeilen, der bisherige Chef Guillermo Achá wurde festgenommen. Seit Morales Amtsantritt gab es acht Chefs, sechs davon standen unter Korruptionsverdacht, drei wurden festgenommen.

Die Verstaatlichung und sprudelnde Einnahmen wecken Begehrlichkeiten, die Korruption in dem Sektor ist in Südamerika eher Regel denn Einzelfall. Unstrittig ist: Die Armut wurde verringert und ein Teil der Einnahmen reinvestiert. »2005 hatten wir öffentliche Investitionen von 600 Millionen Dollar, heute sind es acht Milliarden«, sagt Morales. Im Salar de Uyuni bauen Chinesen gerade für die Bolivianer eine große Anlage zur Kaliumproduktion - in dem Salzsee soll, auch mit deutscher Hilfe, auf rund 40 Quadratkilometern zudem ein Förderkomplex zur Gewinnung von Lithium entstehen - es gibt hier die größten Reserven der Welt. Man braucht es für die Batterien von Elektroautos. Morales sucht auch internationale Partner für den Bau einer riesigen Batteriefabrik, aber die Mehrheit behält Bolivien.

Doch trotz guter Zahlen, 2016 erlitt er die schmerzhafteste Pleite seiner politischen Laufbahn. Er wollte per Referendum die Verfassung ändern lassen, um 2019 noch einmal antreten zu dürfen, um bis 2025, dem 200-Jahr-Jubiläum der Unabhängigkeit Präsident zu sein. Er spricht von »dieser Frau« und einer »Kampagne der Rechten«. Kurz vor dem Wahltag tauchten Berichte auf, er habe mit einer ehemaligen Geliebten, die er angeblich begünstigt habe, ein Kind: Ernesto Fidel. Sein Ansehen litt, er verlor am Ende knapp. »Am 21. Februar 2016 hat die Lüge gewonnen.« Er wirft der Frau vor, von den Gegnern instrumentalisiert worden zu sein. Das Kind tauchte nie auf, die Frau wurde nun zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er will nochmal antreten: Die sozialen Bewegungen sollen ihn rufen, Druck aufbauen, dass er doch noch einmal antreten kann. »Das Volk entscheidet, das Leben von Evo hängt vom Volk ab.«

Man versteht nun so langsam, warum er so rastlos im Land unterwegs ist. Evos Stunde: Er will das Momentum nutzen, am Sportplatz in Comorapa werden Dutzende Schilder »Evos 2020-2025« hochgehalten.

In der Luft zum nächsten Termin stärkt er sich mit Quinoariegeln - das nährstoffreiche »Inkakorn« macht weltweit Karriere als neue »Superfood«. Zudem will er erreichen, dass das Kokablatt als Heilmittel international nicht mehr geächtet und der Koka-Tee zum Exportschlager wird. In Santa Cruz übergibt er den neuen Sitz an die Gewerkschaft der Journalisten. Presse, die seine Politik nicht gutheißen, gegenüber hat er Vorbehalte. Bei der Diskussion über seine Unterstützung für Venezuela, dem Verbündeten aus Südamerika, das gerade eine Wirtschaftskrise durchmacht, droht er mit dem Rauswurf aus seinem Flugzeug. Er wirkt dann wie jemand, der Kritik nicht duldet.

Per Hubschrauber reist er noch zum Start der Zuckerernte in der größten Zuckerfabrik. Ein Popsternchen tritt auf, Miss Minera ist da, Fleischberge und Schweineschwarten werden serviert. 20.000 Tonnen Zucker pro Tag können hier aus dem Zuckerrohr hergestellt werden, den ersten Sack der neuen Ernte stellen sie dem Präsidenten vor die Füße. »Mas dulce - impossible«, lautet der Firmenslogan. »Noch süßer? - Unmöglich.«

Er kämpft um sein Projekt von einem besseren Bolivien - schon jetzt kreisen seine Gedanken um einen großen Staatsgipfel zum 50. Todestag von Che Guevara im Oktober. Der bolivianische Militär, der den Revolutionär damals gefangen nahm, darf übrigens nicht mehr an den Staatsdefilés zum Nationalfeiertag teilnehmen.

Wenn das Volk ihn wirklich nochmal ruft und er bis 2025 weitermachen darf, dann will er bis dahin seinen größten Traum verwirklichen. Eine Bahnlinie vom Atlantik zum Pazifik, um Güter schneller nach Asien und Europa zu bekommen. Denn Bolivien hat keinen Meerzugang. »Dieser Zug zwischen den Ozeanen wird der Panamakanal des 21. Jahrhunderts.«

Im Flieger zurück nach Cochabamba erzählt er die Anekdote, wie er 2013 auf dem Rückflug von Moskau in Wien zwangslanden musste, weil vermutet wurde, der von den USA wegen seiner Enthüllungen gesuchte Ex-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden sei bei Morales an Bord.

Um 23 Uhr abends landet der Präsident wieder in Cochabamba, auf dem letzten Flug des Tages hat er erstmals einige Zeitungen studieren können. In sechs Stunden startet er von hier wieder. Evos Stunde.

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