Eine Nase für Raritäten

Die Schostakowitsch-Tage in Gohrisch brachten auch Werke von Mieczysław Weinberg und Sofia Gubaidulina zu Gehör

  • Dietrich Bretz
  • Lesedauer: 4 Min.

Als 2010 im idyllischen Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz erstmals Internationale Schostakowitsch-Tage stattfanden, konnte wohl niemand die rasante Entwicklung dieses Festivals voraussehen. Scharen von Freunden der Musik des großen Russen strömten auch im achten Jahrgang aus Nah und Fern in die vielfach ausverkauften Veranstaltungen. In Gohrisch hatte der Komponist 1960 und 1972 Erholung und Muße für sein Schaffen gesucht und sein berühmtes 8. Streichquartett geschrieben.

Der Erfolg des weltweit einzigen Schostakowitsch-Festivals ist nicht nur der engen Zusammenarbeit des Vereins »Schostakowitsch in Gohrisch« mit der Sächsischen Staatskapelle zu verdanken, sondern auch der ausgezeichneten Dramaturgie, die neben wenig aufgeführten oder gar unbekannten Werken Schostakowitschs auch Tonschöpfungen von Zeitgenossen einbezieht. So standen diesmal Kompositionen seines Weggefährten Mieczysław Weinberg (1919 - 1996) und der von ihm geförderten Sofia Gubaidulina (geb. 1931) auf dem Programm.

Weltweit bekannte Schostakowitsch-Interpreten fanden sich in der akustisch guten Konzertscheune ebenso ein wie aufstrebende junge Musiker. Im Blickfeld des Eröffnungskonzertes stand Viktoria Postnikowa, die Grande Dame unter den russischen Pianistinnen. Schostakowitschs 1. Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester op. 35 (1933) erwies sich in seiner kammermusikalisch-konzertanten Haltung, abhold jeglicher Klangfülle und dem virtuosen Glanz des romantischen Orchesters, der Aufführungsstätte angemessen. Faszinierend, mit welcher Brillanz die Pianistin die grotesken, mitunter bravourösen Hürden der Solopartie bewältigte und wie vielfältige instrumentale Fäden sie mit einem Kammerensemble der Staatskapelle spann.

Nicht minder renommiert in ihrem Instrumentalbereich sind das Raschèr Saxophone Quartet aus den USA und das Slagwerk Den Haag. Ensembles, die den Rahmenwerken des Abends Profil gaben - so Gubaidulinas Stück »In Erwartung« für Saxophonquartett und sechs Schlagzeuger zum Auftakt und ihrem abschließenden Opus »Verwandlung« für Posaune, Saxophonquartett, Violoncello, Kontrabass und Tam-tam. Das Ensemblestück »Verwandlung« verdeutlicht die Auseinandersetzung der Komponistin mit dem Genre des instrumentalen Theaters. Ein Werk, in dem sich unter dem Einfluss des als »Gottesnarr« fungierenden Posaunisten der Ausdrucksbogen spannt vom Klanggewirr des Saxophonquartetts bis hin zu einer »Verständigung« symbolisierenden expressiven melodischen Linie. Zum Raschèr Saxophon Quartet gesellte sich hier noch der exzellente, auch theatralisch agierende Posaunist Frederic Belli sowie Instrumentalisten der Staatskapelle.

»Das musikalische Genie Bachs steht mir besonders nahe. Ich höre seine Musik stets mit größtem Gewinn.« - Worte Schostakowitschs anlässlich seines Besuchs des Bach-Jubiläums 1950 in Leipzig. In dessen Nachhall entstanden die bedeutenden 24 Präludien und Fugen op. 87. Ein Werk, das im Musikbetrieb eine Rarität ist und nun dem Gohrischer Festival einen markanten Akzent verlieh. Zumal mit dem noch von Swjatoslaw Richter geprägten Pianisten Alexander Melnikow ein Interpret gewonnen wurde, der für den von musikalischen Ideen übersprudelnden Zyklus berufen ist. Welche Vielfalt an Ausdrucksfacetten vermochte Melnikow in dem gewaltigen Kosmos zu entdecken! Von kontemplativer, ja gramvoller Diktion bis hin zum energiegeladenen Gestus wusste er einen überzeugenden Bogen zu spannen.

Instruktiv war die Mieczysław Weinberg, jenem vor dem Faschismus aus seiner polnischen Heimat in die Sowjetunion geflohenen Komponisten, gewidmete Soirée. Da gestalteten die Geiger Linus Roth und Dmitri Sitkowetski, der Cellist Emil Rovner sowie die Pianisten Florian Uhlig und Elisaveta Blumina einen vielschichtigen Querschnitt durch das in unseren Breiten weitgehend unbekannte kammermusikalische Oeuvre Weinbergs. Neben dessen 2. Sonate für Violine solo op. 95 und der durch markante Rhythmen und elegische Passagen bestechenden Sonate für zwei Violinen op. 69 wurde noch das durch Klangsensibilität für sich einnehmende Largo für Violine und Klavier aus der Taufe gehoben. Doch damit nicht genug. Rovner gewährte mit dem Vortrag von sechs Stücken aus den 24 Präludien für Violoncello solo op. 100 einen Einblick in das Gesamtwerk. Und das abschließend präsentierte Klaviertrio op. 24 machte in seinem aufgewühlten, jedoch auch nachdenklichen Tonfall mit einem der gewichtigsten Kammerwerke Weinbergs bekannt.

Dramaturgisch sinnreich auch das Abschlusskonzert, das Kompositionen der drei diesjährigen Gohrischer Leitgestalten konfrontierte. Dirigent Thomas Sanderling engagierte sich da mit einem aus Mitgliedern der Staatskapelle bestehenden Kammerorchester für die späte Uraufführung von Schostakowitschs »Drei Fragmenten, die nicht in die finale Version der Oper ›Die Nase‹ op. 15 aufgenommen wurden«. Gleichwohl atmen sie den stilistischen Geist jenes musiktheatralischen Geniestreichs. Und mit der deutschen Erstaufführung von Gubaidulinas Stück »Die Pilger« für Violine, Kontrabass, Klavier und zwei Schlagzeuger - einem Sinnbild ihrer Auffassung vom Leben als einer beständigen Suche nach der göttlichen Heimat - klang Gubaidulinas diesjährige Residenz als Capell-Compositrice bei der Staatskapelle aus. Das Schlusswort war jedoch Weinberg vorbehalten - der Uraufführung der viersätzigen Fassung seiner von tragisch-dramatischen und grüblerischen Momenten durchzogenen 2. Kammersinfonie op. 147 für Streichorchester und Pauken. Ein würdiger Ausklang dieses Kleinods unter den Musikfesten.

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