nd-aktuell.de / 28.06.2017 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 6

Lähmende Angst vor der Armut

Verbände fordern neue, gerechtere Sozialpolitik

Grit Gernhardt

Ob ehemaliger technischer Zeichner oder Ex-Lottoladen-Besitzerin - Erwerbslosigkeit und (Alters)Armut können jeden treffen. Dann wird es schwer, zwischen fehlendem Geld und Jobcenter-Drohungen Würde zu bewahren oder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das ist die Botschaft, die die Organisatoren des zweiten Armutskongresses in Berlin am Dienstag ihrer zweitägigen Veranstaltung voranstellten. Dazu ließen sie Menschen von ihren Erfahrungen berichten, bevor Sozialwissenschaftler und Verbändemitglieder das Podium im Langenbeck-Virchow-Haus übernahmen. Unter anderem kam das Forum KinderarMUT Uslar zu Wort, das innerhalb von drei Jahren in der Kleinstadt bei Göttingen rund 64 000 Essen für arme Kinder finanzierte. Bundesweit gelten 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche als arm. Sie haben keine einflussreiche Lobby und sind auf ehrenamtliche Hilfe sowie Spenden angewiesen.

Ein Armutszeugnis für ein reiches Land, meinte Jutta Allmendinger, seit 2007 Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Nicht nur, dass Einrichtungen wie die Tafeln überhaupt notwendig seien, sondern auch, dass ehrenamtliche Tätigkeit so wenig wert sei, dass es dafür nicht einmal Sozialversicherungsschutz gebe. Ihre Hauptbotschaft lautete aber, dass das Armutskonzept weiter gefasst werden muss. Mit dem der absoluten Armut - also existenzieller Not - komme man in einem wirtschaftsstarken Staat nicht weit und auch die relative Armut, für die unter 60 Prozent des Medianeinkommens ausschlaggebend sind, bilde soziale Ungleichheit nicht ab.

Allmendinger verwies vor mehreren Hundert Interessierten auf die »Vermächtnisstudie« des WZB, die 2016 vorgestellt wurde, aber medial wenig Beachtung fand. Über 3100 Menschen zwischen 14 und 80 wurden nach Einstellungen, Zukunftswünschen und -ängsten befragt. Die Ergebnisse zeigen eine Diskrepanz zu offiziellen Verlautbarungen: Während laut dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 15,7 Prozent der Deutschen arm sind, fühlten sich in der Studie rund 22 Prozent arm. Bei den Rentnern war der Unterschied mit 7 gegenüber gefühlten 22 Prozent sogar noch größer.

Mehr als das Einkommen zähle das Gefühl eines Statusverlustes, so Allmendinger - und die Angst vor Armut. 17 Prozent der Befragten, vor allem Vollzeitbeschäftigte mit niedriger Bildung, berichteten über ein Gefühl der Unsicherheit. Das lähme viele Menschen, lasse sie pessimistisch werden und werde zudem an die nächste Generation weitergegeben, was die Gesellschaft gefährde.

Um die Entwicklung zu durchbrechen, hatte Allmendinger konkrete Forderungen: Alle zuständigen Ministerien sollten zusammenarbeiten, die Bildungspolitik verbessern, Kinder und Frauen stärker absichern sowie die Arbeitswelt familienfreundlicher gestalten. Zudem sei eine öffentliche Debatte über die Primärverteilung von Einkommen notwendig. Anders gesagt: Wie niedrig und wie hoch dürfen Einkommen sein. Interessanterweise gaben bei der Studie nämlich rund 70 Prozent der Befragten, darunter viele Gutverdiener, an, dass sie einen Maximallohn für nötig halten. Utopische Gehälter für Vorstandschefs haben demnach kaum gesellschaftlichen Rückhalt.

Die Soziologin war nicht die einzige, die ihre Forderungen an die Bundespolitik öffentlich machte. Vor der Bundestagswahl wollen die Sozialverbände noch einmal verdeutlichen, was gegen Armut und soziale Ausgrenzung getan werden muss. Die unterhöhlten die Basis des Zusammenhalts und der wirtschaftlichen Entwicklung, sagte Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Verbandes. Um das zu verhindern, sei eine neue Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik notwendig, finanziert durch gerechte Steuerpolitik. Hohe Einkommen, Finanztransaktionen und Erbschaften müssten angemessen besteuert und das Geld in Schulen, Kitas oder Schwimmbäder investiert werden.

Jeder solle Akteur seines Lebens sein können, forderte Barbara Eschen, Vorsitzende der Nationalen Armutskonferenz. Das bedeute aber, dass der Staat das sozioökonomische Existenzminimum mit mehr Geld sichern müsse. DGB-Vorstand Annelie Buntenbach konkretisierte die Forderungen für den Arbeitsmarkt: Weg mit dem Niedriglohnsektor und sachgrundlosen Befristungen, eine Reform der Minijobs sowie eine existenzsichernde Rente würden der ganzen Gesellschaft gut tun. »Die Politik muss schauen, was die vielen wollen und nicht die wenigen«, so Buntenbach.

Noch bis Mittwochnachmittag finden beim ausgebuchten Kongress Diskussionen, Vorträge und Foren statt - in der Hoffnung, dass wenigstens ein paar der Vorschläge gegen Armut Eingang in die Politik finden.