Die G20 in der Krise der Globalisierung

Der neue Protektionismus, kapitalistische Welt(un)ordnung und die Fallstricke der Logik des kleineren Übels

  • Samuel Decker und Thomas Sablowski
  • Lesedauer: 6 Min.

»Die Deutschen sind böse, sehr böse.« So übersetzte der Spiegel eine Aussage von US-Präsident Donald Trump bei einem Treffen mit der EU-Spitze im Mai, die auf die hohen deutschen Handelsbilanzüberschüsse gegenüber den USA zielte. Die Repräsentanten deutscher Konzerne in den Wirtschaftsverbänden, Parteien und Medien dürfte weniger Trumps Rhetorik stören, als vielmehr die Aussicht, dass Trump seine handelspolitischen Ankündigungen wahrmachen könnte. Protektionistische Maßnahmen der USA wie z.B. die avisierte Grenzausgleichssteuer wären tatsächlich Gift für die deutsche Exportindustrie. Daher wundert es nicht, dass sich Kanzlerin Merkel von dem kommenden G20-Gipfel in Hamburg vor allem ein Bekenntnis zu »offenen Märkten« erhofft.

Dabei sind protektionistische Erwägungen keine Spezialität von Trump und auch keine Domäne rechtspopulistischer Kräfte alleine. Auch das Wahlprogramm von Emmanuel Macron, dem Hoffnungsträger linksliberaler EU-Freunde in Deutschland, enthält protektionistische Forderungen. So schlägt Macron einen »Buy European Act« vor, der es der öffentlichen Hand ermöglichen soll, bei Beschaffungen Unternehmen aus der EU zu bevorzugen. Auch ausländische Direktinvestitionen in der EU möchte Macron kontrollieren, um die Übernahme europäischer Unternehmen in Schlüsselsektoren durch US-amerikanisches oder chinesisches Kapital zu verhindern.

Die Autoren

Samuel Decker ist Ökonom und bei der Organisation von Protesten gegen den G20 Gipfel im Juli in Hamburg beteiligt. Thomas Sablowski ist Referent für Politische Ökonomie der Globalisierung im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Beide Autoren haben vor kurzem die Studie »Die G20 und die Krise des globalen Kapitalismus« publiziert (Reihe »Studien« der Rosa-Luxemburg-Stiftung). Beide Autoren waren auch an der Vorbereitung des »Gipfels für globale Solidarität« beteiligt, der am 5. und 6. Juli als Alternativprogramm zum G20-Gipfel in Hamburg stattfindet.

Im Weltmarkt hängt es immer von der konkreten Situation und Interessenlage ab, ob Unternehmen und Politiker*innen sich auf die Freihandelsideologie berufen oder protektionistische Maßnahmen fordern. Die Kräfte, die wirtschaftlich überlegen sind, fordern in der Regel den freien Waren- und Kapitalverkehr; diejenigen, die in der Konkurrenz unter Druck stehen, fordern protektionistische Maßnahmen zu ihren Gunsten.

Der Gegensatz zwischen Protektionismus und Freihandel ist also nicht neu. Neu ist aber, dass protektionistische Positionen in den USA an Boden gewinnen, was ein deutliches Zeichen für die Krise der US-Hegemonie ist. Neu ist auch, dass die »kommunistische« Regierung Chinas sich nun zur Verteidigerin der liberalen Weltordnung aufschwingt. Dies zeigt, wie sehr die globalen Machtverhältnisse sich verschoben haben. Die deutsche und die chinesische Regierung finden sich plötzlich in einer Allianz gegen Trumps Protektionismus wieder.

Handelspolitische Auseinandersetzungen hat es in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben, auch zwischen den USA und der EU. Allerdings bezogen sich die Konflikte meistens auf einzelne Sektoren und Branchen. Gegenwärtig geht es bei dem Streit zwischen den USA und anderen G20-Staaten jedoch um makroökonomische Fragen, um die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Hinzu kommen die gesunkenen Renditeerwartungen und der Mangel an attraktiven Kapitalanlagemöglichkeiten. Die Finanzkrise ist zwar überwunden - ihre Ursachen schwelen jedoch weiter. In großen Krisen nimmt die protektionistische »Versuchung« zu. Das zeigte sich in den 1930er Jahren ebenso wie heute.

Der Handelsstreit mit den USA kommt unerwartet - schließlich standen in der Vergangenheit vor allem Wirtschaftskonflikte zwischen den alten Industriestaaten (Westeuropa, USA, Japan) und den Schwellenländern im Vordergrund. Das Bild von einem linearen Aufstieg »des Südens« und einem simultanen Machtverlust »des Nordens« hängt aber ohnehin schief: Die »Öffnung« ehemals peripherer Staaten - allen voran Chinas - nach Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus« erfolgte im Interesse Westeuropas und Nordamerikas: Für diese alten kapitalistischen Zentren, die seit den 1970er Jahren mit einem Rückgang der Wachstumsraten zu kämpfen hatten, kam die Transformation Chinas und Osteuropas gerade zur rechten Zeit: Die neuen Märkte dämpften das Problem der Überproduktion, billige Rohstoffquellen sprudelten reichlich, hunderte Millionen Menschen standen nun zusätzlich als Arbeitskräfte zur Verfügung, und die Produktion wurde in großem Umfang an die neuen Niedriglohnstandorte verlagert. Die Gründung der WTO und der Beitritt Chinas zu ihr markierten Höhepunkte dieser neoliberalen Globalisierung.

Hier findet sich eine vorläufige Erklärung für die stabilisierende Rolle Chinas im Konflikt mit den USA. Der ökonomische Aufstieg Chinas erfolgte innerhalb der liberal-kapitalistischen Weltordnung. China und weitere BRICS-Staaten sind daher nicht an einem chaotischen Zerfall der neoliberalen Ordnung interessiert, sondern eher an deren langfristiger Transformation.

Trotz der (asymmetrischen) Integration der Schwellenländer in die liberal-kapitalistische Weltordnung kommt es zu wachsenden Rivalitäten. Die ehemaligen Peripherien verfolgen zunehmend ihre eigenen Entwicklungsstrategien. China etwa setzt inzwischen darauf, die Abhängigkeit von Exporten durch eine stärkere Entwicklung des Binnenmarkts zu reduzieren, und baut gleichzeitig führende Unternehmen in Schlüsselsektoren auf, die längst als Global Player agieren. Für die Unternehmen aus den alten kapitalistischen Zentren spielt der heftig umstrittene Schutz »geistiger Eigentumsrechte« (Patente, Marken etc.) eine zentrale Rolle, um ihre Machtposition zu verteidigen. Konflikte um Absatzmärkte und knapper werdende Ressourcen spitzen sich zu. Die Stagnation der Verhandlungen im Rahmen der WTO seit der Ministerkonferenz von Cancun 2003 ist ein Symptom dafür, dass der neoliberale Multilateralismus seinen Zenit überschritten hat.

Die Konfliktachse zwischen den alten Industriestaaten und den aufstrebenden Ökonomien bleibt also bestehen. Sie wird jedoch durch den wieder aufflammenden Konflikt zwischen Protektionismus und Freihandel überwölbt. Insgesamt lässt sich eine Vervielfältigung der Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Staatenwelt beobachten. Kein Staat und kein multilaterales Organ kann für sich noch eine hegemoniale Stellung beanspruchen. Zunehmende währungs- und handelspolitische Rivalitäten, die Folgen des Klimawandels und das Ringen um knapper werdende Ressourcen, Konflikte im Cyberspace und um die öffentliche Berichterstattung (Stichwort »Fake News«) sind nur einzelne Elemente einer neuen Welt(un)ordnung.

Die geopolitischen Interessenkonflikte nehmen allenthalben zu, die Kriegsgefahr steigt. Trumps Aufkündigung des Pariser Klimaabkommens und seine Ankündigung, die nach der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise eingeführten Bankenregulierungen wieder teilweise zurückzunehmen, verweisen ebenso auf die Paralyse multilateraler Regime. Die G20, die als Organ zu Stabilisierung der in die Krise geratenen neoliberalen Globalisierung angelegt ist, wird immer mehr zum Papiertiger; sie scheint ebenso blockiert wie andere multilaterale Foren.

Was folgt aus all dem für die Opposition gegen die Politik der Regierungen der G20, die sich in Hamburg beim Gipfel für globale Solidarität und bei verschiedenen Demonstrationen und Aktionen zivilen Ungehorsams artikulieren wird? Die globalisierungskritische Bewegung hat mit guten Gründen die WTO, den IWF oder die Weltbank kritisiert. Aber das reicht heute nicht mehr aus. Das neoliberale Globalisierungsprojekt und ihr Multilateralismus sind längst in der Krise. Teile der Regierenden setzen auf die Reorganisation ihrer Macht mit Hilfe des autoritären Populismus, der nationalistisch und protektionistisch argumentiert.

In dieser Situation liegt es nahe, der Logik des kleineren Übels zu folgen: Lieber Hillary Clinton als Trump, lieber Macron als Marine Le Pen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die Linke zwischen den Fraktionen des Machtblocks zerrieben wird, wenn es ihr nicht gelingt, eine eigenständige Position zu entwickeln, die sowohl vom kosmopolitischen Neoliberalismus als auch vom autoritären Populismus unterscheidbar ist.

Im Übrigen sollte die Linke sich klarmachen, dass der kosmopolitische Neoliberalismus auf der einen Seite und autoritärer Populismus auf der anderen Seite keine absoluten Gegensätze bilden. Autoritärer Populismus prägte, wie Stuart Hall in seinen Analysen gezeigt hat, bereits den Diskurs von Margaret Thatcher und verhalf ihrer neoliberalen Politik zum Durchbruch. Trump setzt trotz seines Protektionismus in vielen Bereichen neoliberale Politik fort, ja er radikalisiert sie. Seine Haltung des »Nach mir die Sintflut!« ist nichts anderes als eine extreme Form des Liberalismus.

Der G20-Gipfel ist einer der wichtigsten Anlässe zum Protest seit Jahren. Während die Krise der Globalisierung klar zu Tage tritt, treffen Vertreter*innen des neoliberalen Kosmopolitismus und des autoritären Populismus aufeinander und ringen um die Zukunft der Weltwirtschaft. Die progressiven Kräfte müssen derweil ihr eigenes ökonomisches Projekt entwickeln. Der G20-Protest bildet dafür einen Auftakt.

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