In drei Jahrhunderten um die Welt

»Die fotografierte Ferne. Fotografen auf Reisen« - die Geschichte einer Kunstform in der Berlinischen Galerie

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Ferien sind in Sicht. Im Gepäck befindet sich immer seltener imposante Fototechnik, dafür aber vielleicht eine Kleinbildkamera und natürlich das Smartphone. Es wird geknipst und gepostet, was die schönste Zeit im Jahr so hergibt.

Genau in diesen Monaten zeigt die Berlinische Galerie, das Landesmuseum für Moderne Kunst, Bilder der Ferne. Zugreisen, Autofahrten, der Blick vom Schiff und dennoch nichts, was landläufig zu erwarten wäre. Oder doch? Da ist die junge Frau »Djemila«, die Marianne Breslauer 1931 in Jerusalem ablichtet - so modern, als wäre es ein Posting von heute. Der Blick aus dem Flugzeug von Wolfgang Tillmans wirkt unlebendig und glatt. Er lässt uns auf die Oberflächen schauen, als seien diese eine Chiffre für die Gegenwart. Heidi Specker verdichtet ihre römischen Impressionen im Großfoto zu einer rätselhaft brisanten Schönheit. Die »Reise nach Berlin«, eine Bildserie des Münchner Reporters Tim N. Gidal (1909 - 1996) von 1931 nimmt die Zugreise zum Thema, mit Linien und Rhythmen aus Schienen, Überlandleitungen und Sonnenstrahlen.

Die Ausstellung ist in ihrer Fülle mit 180 Bildern von 17 Fotografen, dabei Erich Salomon, Ulrich Wüst, Hans-Christian Schink mit seinen Großlandschaften nach Fukushima und Wolfgang Tilmans, dem die Tate Modern gerade eine Retrospektive gewidmet hat, eine echte Überraschung. Sie hält zudem Geschichten bereit, die sich um die Reisen, die Sehn- und Sehsüche der Fotografen und die Herstellung der Bilder ranken. Fast alle gezeigten Arbeiten stammen aus der opulenten Sammlung des Museums, das keinen Ausstellungsetat, aber einen rührigen Förderverein hat. Und der trug 130 000 Euro zur Unterstützung der Gruppenausstellung zusammen.

Ulrich Domröse, Direktor der Fotografischen Sammlung, hat die historisch und konzeptionell vergleichend angelegte Fotoschau kuratiert. Sie durchquert das 20. und 21. Jahrhundert und zeigt exemplarisch die sich wandelnden fotografischen Ambitionen und Stilmittel. Sie folgt der These, die Welt draußen sei das andere, das mit dem Inneren, der Erwartung, einer erzählerischen Absicht (oder der Verweigerung dieser), mit Überraschung und Strategie erfahrbar gemacht werde. Die fotografische Technik dient als Filter und Transporteur dieses Wollens beziehungsweise auch als Chance, sich neue visuelle Möglichkeiten zu erschließen - etwa vom Kleinbild zum XL-Format, von schwarz-weiß zur Farbe, von analog zu digital.

Nach einem »Prolog« mit kolorierten Studiofotos aus Japan von 1875 - 1910 folgen die Blicke der Moderne, die gewagten Anschnitte, das neue Sehen, das etwa Erich Salomon, der prominente Berliner Gesellschaftsfotograf, von seiner USA-Reise mitbrachte. Man(n) trug 1932 Hut zur Überfahrt nach Ellis Island. Er zeigt angespannte und lässige Leute, schnelle, mit einer »Leica« geschossene Bilder. Die gebürtige Berlinerin Marianne Breslauer nahm 1929 an der Internatonalen Ausstellung Film und Foto des Deutschen Werkbundes teil. Sie fotografierte 1931 im Nahen Osten Alltagsszenen. Robert Petschow, Ingenieur, Pilot und Fotograf, zelebrierte 1930 den Blick aus Ballon und Zeppelin. Die Sicht von oben ergab einerseits tolle Lineaturen, Raster und Zeichen (»Die Ernte«, »Eisbahn auf Schlossteich«), andererseits topografische Informationen (»Viadukt von Eglisau«), die als frühe Vorläufer des heutigen »Google Earth« lesbar sind.

Hatte man sich vor dem Krieg experimentelle Blickwinkel erschlossen, so geht es in den Fünfzigern um den persönlichen Blick, um künstlerische Authentizität und die Frage, wie Menschen leben. Ein Meilenstein wurde Otto Steinerts Großprojekt »The Family of Man«. Das Opus Magnum inspirierte die Dresdner Fotografin Evelyn Richter (geb. 1930 in Bautzen) zu ihren subjektiven Reportagen. 1957 reiste sie nach Moskau zum Weltjugendfestival. Neben herzlichem Lachen, Skepsis oder Charme ist ein nahezu erschreckender Ernst in den Gesichtern zu lesen, so wenige Jahre nach dem Krieg.

Thomas Hoepker fotografierte im gleichen Zeitraum in den USA. Mit seinen Bildern entzaubert er den damaligen Begriff vom »American Way of Life«. Ikonografische Qualität hat sein Foto von zwei reiferen Männern samt Hund in der Kleinstadt Iowa. Ein universelles Motiv göttlicher Langeweile, per Handy der Ausstellungsbesucher wird Bild zu Bild zu Bild die Fotogeschichte fortgeschrieben.

Die Erzählstränge sind subtil gespannt. Spontane Fotografie aus den Fünfzigern trifft auf inszenierte Tableaus etwa von Tobias Zielony, der 2008 in Chicago Jugendliche und Familien fotografierte. Illustriertenreportage trifft auf Autorenfotografie etwa von Ulrich Wüst. Im Grenzbereich zwischen beiden Genres arbeiteten Hans Pieler und Wolf Lützen, die 1984 mit einer versteckten Kamera ihre Transitreise von Berlin durch die DDR nach Hamburg dokumentierten.

Den traditionellen touristischen Blick hat in den neunziger Jahren Karl von Westerholt mit seiner Serie »Die Welt in Auszügen« nachvollzogen. Winzige Bildchen mit Zickzackrändern halten Menschen und Sehenswürdigkeiten fest. Dazu hätten gut die Riesenformate von Thomas Struth gepasst, der ebenfalls das (massentouristische) Reisen und die Wahrnehmung der Welt thematisierte und in leuchtenden XL-Bildern eingefangen hatte. Ulrich Domröse geht einen radikalen Schritt und hängt von Kurt Buchwald Mallorca-Farbfotos gegenüber, auf denen nicht »Cala san Vincente« zu sehen ist, sondern ein rotes Quadrat, das die Sicht auf die sonnige Szenerie fast komplett versperrt. Was sieht man, wenn man nichts sieht? Was sollte man fotografieren, wenn Hochglanzpresse und TV schon jeden erdenklichen Eindruck zum Klischee verkürzt haben?

Nicht minder radikal, aber poetischer geht Sven John vor: Nur vage leuchten in seinen Bildern nächtliche Orte auf, derweil ein funkelndes Firmament sich auch auf dem Foto zeigt. Der Betrachter soll sich, so der Fotograf, durch den nächtlichen griechischen Himmel navigieren, allein unterstützt von Tagebuchauszügen am unteren Bildrand. »Randnotizen zum Weltgeschehen«. Sven Johne besuchte im Jahr 2012 insgesamt 37 Orte in der Ägäis, als an jedem Stammtisch gewusst wurde, was die Griechen falsch machen und die Tageszeitungen in Athen die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in Naziuniform präsentierten. Dem »Kreischen der Bilder« setzt Johne irritierende nächtliche Stille entgegen. In diesen Zeiten, so mag man aus dem Sternenhimmel lesen, ist die Orientierung kaum leichter als auf der Irrfahrt des Odysseus.

»Die fotografierte Ferne - Fotografen auf Reisen (1880 - 2015)«, bis zum 11. September in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstr. 124 - 128, Kreuzberg

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