Der Schriftsteller als moralische Instanz

Zum Tode des großen russischen Literaten Daniil Granin, in dessen Leben sich ein ganzes Jahrhundert spiegelt

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 8 Min.

Er gehört zu den wenigen russischen Schriftstellern, die als mutige Persönlichkeit der Zivilgesellschaft, als moralische Autorität und Gewissen ihres Volkes in großen Teilen der Welt fast uneingeschränkt Anerkennung finden. Dass auch dieser Mensch keineswegs fehlerfrei und unbescholten, dass er als Leitungsmitglied des Leningrader, Russischen und Gesamtsowjetischen Schriftstellerverbands in unvermeidbare Konflikte verwickelt war, schmälert seine Bedeutung nicht.

Geboren wurde Granin (eigentlich German) am 1. Januar 1919 im Dorf Wolyn im Kursker Oblast. Sein Vater, ein Forstarbeiter, wurde später von Stalins Terrorjustiz in die Verbannung geschickt. 1940 schloss Granin am Leningrader Polytechnischen Institut das Studium der Elektrotechnik ab und arbeitete danach als Ingenieur im Konstruktionsbüro der Kirowwerke. Im Juli 1941 meldete er sich freiwillig zur Volkswehr, um Leningrad zu verteidigen. An der Front trat er in die Partei ein. Mehrfach verwundet und für seine Tapferkeit gewürdigt, war der Krieg für den Kommandeur einer Panzerkompanie 1945 in Ostpreußen zu Ende. Von 1945 bis 1950 arbeitete Granin bei einem Energieunternehmen an der Wiederherstellung des Leningrader Elektrizitätsnetzes und absolvierte eine Aspirantur am Polytechnischen Institut.

Um jeden Preis aber wollte er schreiben. Nachdem er die schöpferische geistige Tätigkeit des Ingenieurs, Wissenschaftlers und Forschers zum zentralen Thema seines literarischen Schaffens gewählt hatte, machten ihn Werke wie »Bahnbrecher« (1954) und »Die eigene Meinung« (1956) schlagartig bekannt.

Auffällig ist, dass Granin den Einstieg in die Literatur über seine berufliche Tätigkeit fand, während die Vertreter der »Leutnantsliteratur«, die einige Jahre jünger waren, durch die realistische Darstellung der »Schützengrabenwahrheit« die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Im Roman »Bahnbrecher« wird einem jungen Wissenschaftler gleich nach der Aspirantur die Leitung eines elektrotechnischen Labors übertragen. Ihm gelingt die Entwicklung eines Radarsuchgeräts zur Lokalisierung von Leitungsschäden aber erst, als er sich über engstirnige Vorgesetzte und bürokratischen Ränke hinwegsetzt und die Untergebenen mit seinem Elan ansteckt. Der Roman war in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in der DDR das meistgelesene sowjetische Buch. Auch die Erzählung »Die eigene Meinung« fokussiert den Mut des Wissenschaftlers, seine Überzeugungen gegen Widerstände zu verteidigen. Die parteinahe Kritik sah in dem Nowy-Mir-Text ein unliebsames Produkt der »Tauwetterliteratur«.

Lange Zeit blieb die schöpferische wissenschaftliche Arbeit Granins Hauptthema. Der Roman »Dem Gewitter entgegen« (1962) zeigt zwei Physiker, die das Geheimnis der Gewitterwolken erforschen, in einer krassen Konfliktsituation, in der Verantwortungsbewusstsein und Durchstehvermögen gefordert sind. Das Ringen um den wissenschaftlichen Fortschritt steht im Mittelpunkt von Werken, die dem Biologen Alexander Ljubischtschew (»Ein seltsames Leben«, 1974), dem Genetiker Nikolai Timofejew-Ressowski (»Sie nannten ihn Ur« bzw. »Der Genetiker«, 1987), dem Physiker François Arago (»Der Gelehrte und der Kaiser«, 1991) und den Kybernetikern Joe Bert und Andrea Kostas (»Flucht nach Russland«, 1994) gewidmet sind. Andere Bücher berichten vom Schicksal fiktiver Figuren wie dem des Mathematikers Kusmin (»Der Namensvetter«, 1975).

Um den Roman »Sie nannten ihn Ur« entbrannte in der Sowjetunion und in der DDR eine heftige ideologische Diskussion, die dazu führte, dass er längere Zeit auf Eis lag. Timofejew-Ressowski, mit Forschungsaufgaben nach Berlin-Buch delegiert, weigert sich darin, 1937 in das Land des Stalinschen Terrors zurückzukehren. 1946 verurteilt ein sowjetisches Militärgericht den »Vaterlandsverräter« zu zehn Jahren Freiheitsentzug. Granin zeichnete den Genetiker als einen Mann, der von seiner Arbeit besessen ist und sich keinem Dogma beugt. Geistiges Schöpfertum wurde im Verlauf der Jahre für den Autor zu einem Phänomen, das für den Fortschritt auf allen Gebieten von größter Bedeutung ist, auch für die Kunst (»Das Gemälde«, 1980) und die Politik der Staatenlenker (»Peter der Große«, 2000). Peter, der mit Leibniz und Newton kommuniziert, ist hier Zar und Ingenieur zugleich.

Über ein Jahrzehnt brauchte Granin, bis ein zweites Grundthema in seinem literarischen Schaffen zum Durchbruch kam – die tragische Erfahrung des Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Ansätze dazu tauchten in den Reisebildern auf, in denen er Impressionen aus Aufenthalten in England, Australien, der DDR, Italien, Frankreich, Kuba, den USA und Japan verarbeitete.

Zur DDR, die er seit 1956 regelmäßig besuchte, entwickelte Granin ein besonders inniges Verhältnis. Der Schlüsseltext zum Kriegsthema im Band »Garten der Steine« (1972) ist das Reisebild vom Besuch im Naumburger Dom »Die schöne Uta« (1967). Granin gesteht, dass er schon bei der Verteidigung Leningrads darüber nachgedacht hatte, wie nach dem Krieg sein Verhältnis zu den Deutschen sein werde. Bei dem Gedanken, er hätte die Uta zu Staub zerschießen können, krampft sich sein Herz zusammen. Er gewinnt Gewissheit darüber, »dass Faschismus und Deutsche verschiedene Dinge sind«.

In Erzählungen wie »Unser Bataillonskommandeur« (1968), von der Parteipresse scharf gerügt, weil der Autor weniger vom Heldentum als vom sinnlosen Sterben der Soldaten berichtet, prangerte Granin den Krieg an. Gemeinsam mit dem Weißrussen Ales Adamowitsch verfasste er das »Blockadebuch« (1977/81), eine dokumentarische Chronik über 900 Tage des Hungerns und Sterbens. Darin werfen zahlreiche Augenzeugenberichte, Tagebücher und andere Dokumente die Frage auf, wer für das schreckliche Leid der Leningrader verantwortlich ist. Das Buch, von der Zensur ohnehin stark verstümmelt, durfte bis 1984 in Leningrad nicht verbreitet werden.

Eine ganz persönliche Version des Kriegs- und Blockadethemas legte Granin mit dem Roman »Mein Leutnant« (2011) vor. Er erzählt die Geschichte der Belagerung aus zwei Perspektiven, der des blutjungen Leutnants D., der die Stadt verteidigt, und der des heutigen Erzähler-Ichs. Das gestattet es, das unmittelbare Erlebte, so lückenhaft es vom Gedächtnis auch immer bewahrt wird, mit dem Wissen von heute zu verbinden. Im Schicksal des Leutnants spiegeln sich zahlreiche Fakten aus dem Leben Granins während des Krieges und in der Nachkriegszeit. Das heutige Ich stellt unangenehme Fragen, die D. nicht zu artikulieren wagt. Allmählich löst sich der Erzähler von D. Er glaubt nicht länger an die »wunderbare Zukunft, für die man Opfer bringen müsse«, hat die Naivität und Leichtgläubigkeit des Leutnants satt, will und muss ohne ihn leben, auch wenn er sich zu seiner Verantwortung für die Vergangenheit bekennt. Auf diese Weise kann Granin endlich seine »Schützengrabenwahrheit« erzählen, wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt im Vorwort zu »Mein Leutnant« schreibt.

In seinen letzten Lebensjahren schuf Granin eine Reihe von Werken, in denen er versuchte, das eigene Leben und das Schicksal ihm nahe stehender Künstler und Wissenschaftler in den Kontext der Epoche zu stellen. In »Blätterfall« (auch »Die Launen meines Gedächtnisses«, 2008) blickt er auf Krieg und Blockade zurück, schildert die Wohnungsnot nach dem Krieg und den scheinbar dazu im Kontrast stehenden Wiederaufbau der Petersburger Schlösser und Gärten. Er findet kritische Worte über den rüden Umgang der Staats- und Parteiführung mit Wissenschaftlern und Künstlern und berichtet von seinen Auslandsreisen. In »Alles war nicht ganz so« (2010) beschreibt er das Glücksgefühl, die tragische Zeit heil überstanden zu haben. »Die Verschwörung« (2012) handelt von der durch Breschnew inszenierten Ablösung Nikita Chruschtschows, ruft die Leningrader Kindheit in Erinnerung und setzt sich mit den Tagebüchern Konstantin Simonows, Olga Bergholz’ und den Autobiografien einiger Generäle auseinander. Aus einer Fülle von Gedankensplittern ragen tiefgründige Betrachtungen über das Gewissen, das Schamgefühl und die menschliche Seele hervor. Ein Band mit Aufsätzen, Vorträgen und Essays unter dem kryptischen Titel »Intelegendy« (2015) setzt sich mit der Rolle der Intelligenz in der Geschichte der Sowjetunion auseinander.

Zuletzt schrieb Granin den Roman »Sie und alles Übrige« (2017). Die beiden Hauptgestalten, die deutsche Journalistin Magda Werner und der Petersburger Ingenieur Anton Tschagin, treffen sich bei einer Tagung in Berlin und verlieben sich ineinander. Doch einer dauerhaften Beziehung steht nicht nur die Tatsache entgegen, dass Magda die Frucht einer Vergewaltigung in der Endphase des Zweiten Weltkriegs ist. Magda, die Anton in Petersburg besucht, Kriegsveteranen kennenlernt, die Wahrheit über die Blockade erfährt und Debatten über Faschismus und Kommunismus führen muss, kann sich nicht vorstellen, in Russland zu leben. Anton fühlt sich trotz seiner Weltoffenheit in Deutschland fremd.

Daran ist nicht nur sein hartes Verdikt über das Werk von Hitlers Architekt Alfred Speer schuld, über den Magda eine Monografie schreibt, vielmehr sind es die tragischen Ereignisse in der Geschichte beider Familien und Völker. Granin betonte in einem Interview, die Flüchtigkeit und Brüchigkeit vieler Beziehungen in der Gegenwart habe ihn veranlasst, diesen möglicherweise altmodischen Roman über eine große, aber tragische Liebe zu verfassen. Es ist bezeichnend, dass der Autor aber auch seinem alten Thema treu blieb und am Beispiel Werner Heisenbergs, Otto Hahns und weiterer Atomforscher Sinn und Zweck schöpferischer wissenschaftlicher Arbeit hinterfragt.

In der russischen Presse gab es hin und wieder Stimmen, die Granin vorwarfen, er sei seinem Ruf als »Liberaler« nicht gerecht geworden, als er 1964 die Verbannung Brodskis nicht verhinderte und sich 1969 zwingen ließ, sein Veto gegen den Ausschluss Solschenizyns aus dem Schriftstellerverband zurückzunehmen. Vorwürfe dieser Art fällen eher ein Urteil über das Sowjetsystem als über einen Menschen, der unter diesem System leben musste. Mit seinem literarischen Werk, vor allem auch mit seinen publizistischen Texten »Die verlorene Barmherzigkeit« (1993) und »Das Jahrhundert der Angst« (1997), war und bleibt Granin für viele eine moralische Instanz.

Im zweiten dieser Bücher analysierte Granin die Angst, die auch in seinem Leben einen großen Raum einnahm, geistige Impulse seiner Generation erstickte, »unsere Charaktere verbog, uns kraftlos machte und so bittere Erinnerungen hinterließ«. Er nannte die Angst vor dem Personalfragebogen und vor dem Parteiausschluss, deckte ihre Funktion beim Machterhalt auf, schilderte die Ängste der Soldaten vor den Kommandeuren, Ängste aller sozialen Schichten vor Denunziationen und Repressalien. Philosophen, Politiker und Schriftsteller fragte er, welche Rolle die Angst in der Geschichte der Menschheit gespielt habe. Sein Fazit: Nur wer die Angst überwinde, könne die Macht des Bösen abschütteln, die Freiheit erringen und für sein Schicksal die Verantwortung übernehmen.

Dem Autor dieser Bücher nimmt man es gerne ab, wenn er – wie in seiner Rede anlässlich des Holocaust-Gedenktags 2014 vor dem Deutschen Bundestag – das Gedächtnis als den »sakralen Raum« bezeichnete, »wo der Mensch Mitgefühl, Spiritualität und das Wunder der Liebe wiederfindet und begreift, dass letzten Endes nie die Gewalt, sondern stets die Gerechtigkeit triumphiert«.

Am Dienstagabend ist Daniil Granin verstorben. Seit einigen Tagen war der 98-Jährige in einem Krankenhaus in seiner Heimatstadt St. Petersburg behandelt und zuletzt künstlich beatmet worden.

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