nd-aktuell.de / 08.07.2017 / Kultur / Seite 23

Die Bienenangler von Wuppertal

Ein Gefühl von Borstigkeit, ein dicker, fleischiger Zeigefinger und etwas Dunkleres, Schwappenderes. Eine Reportage aus den Zeiten des Ausgedachtseins. Von Jasper Nicolaisen

Jasper Nicolaisen

Morgens, halb zehn in Deutschland. Berlin, Watergate. Der Club direkt am Wasser, der im Namen schon alles zusammenbringt: inbetween Stauffenberg und Trump, Skandale und Skandälchen. Oder auch: ich und Olli. Es stinkt nach Red Bull und Millennials. Im Licht der aufgehenden Sonne zittert die Reflexion zweier Vögelnder in der Spree, die beim Akt aufs Smartphone gucken. Ist das noch Techno oder schon Trap?

Wir sind zu alt für das alles, zwitschern die Vögelnden oder doch die Vögel.

»Golf«, sage ich. »Lass uns Golf spielen.«

»Schach.« Olli, dumpf.

»Whiskeysammeln.«

»Original Ror-Wolf-Collagen.«

»Der ist ja jetzt auch schon 85.«

Wir trinken schweigend. Die Millennials sind so weg von Alkohol.

»Die rasieren sich nicht mal mehr den Intimbereich.« Olli, mit der ganzen Schwermut des schwulen Vollnarzissten. »Pimmel wie’n Bienenangler aus Wuppertal.«

Wir sehen uns an und sind schlagartig nüchtern. Das ist es! Ich lasse mir von der Redaktion per Fax das Go geben und bin schon im Interregio. Olli kommt mit. Die Köder auswerfen mit den Bienenanglern der Schwebebahnstadt. Das kann uns kein Student mit entzündeten Haarwurzeln am Sack nehmen.

Der Zug fährt durch so etwas wie eine Landschaft. In Wuppertal angekommen, steigen wir in Frankfurt aus.

»Entschuldigung?«, entschuldigt sich Olli bei einem Passanten. Es ist ein Herr namens Körber oder Kröber. »Wo geht’s denn hier zu den Bienenanglern?«

Der Herr winkt uns, ihm zu folgen. Wir lassen ihn stehen und gehen in einen Wald. Ein Gefühl von Borstigkeit, gepaart mit einer Art Bündelung stellt sich ein. Plötzlich - Zeit muss vergangen sein, die Bäume sind dicker und fleischiger geworden - wächst eine Tür. Wir gehen hindurch. Die Borstigkeit oder Bündelung umhüllt uns ganz. Eine Frau stellt sich als Alfine vor. Wir vergleichen unsere Namen. Alfine holt ein Metermaß hervor. Auch eine Feinunze und eine Waage fehlen ihr nicht. Olli steuert ein Barometer bei. Alles ist, wie es sein soll. Wir nehmen unsere Namen wieder an uns. Erst Minuten später bemerken wir die Verwechslung. Wir müssen alle drei lachen und tauschen die Namen untereinander wieder zurück. Gefühl, vielleicht Alfine zu sein. Inzwischen sind wir mit Dennis zu viert.

Der Wald entpuppt sich als Wind und ändert die Richtung. Wir nehmen eine Treppe. Durch die Fenster des Hochhauses drängen sich Lianen und Geflechte. Wir verstricken uns, kommen auf amüsante Weise mit unseren Gliedmaßen durcheinander. Borstigkeit und Bündelung erreichen einen Höhepunkt, dem ein tiefer Schlaf folgt. Wir beobachten ihn interessiert. Alfine belehrt uns, dass Derartiges hier sehr selten sei.

Im Fahrstuhl steht ein Tisch. Auf dem Tisch liegt ein Mann mit entblößtem Bauch. Ekel packt uns angesichts der speckglänzenden Erhebung. Es kommt zu Szenen. Jemand kreischt. Die Polizei will mehr wissen. Es ist ein Wachtmeister oder Konstabler namens Lanke. Er reicht jedem von uns die Hand und tastet uns mit den Augen ab. Die Klärung des Geschehenen duldet keinen Aufschub. Alles ist ein Beweis. Peinlich berührt starren wir auf unsere Schuhe. Die Maserung des Fahrstuhlbodens mäandert schräger und gewinnt etwas Pelziges. Zwischen den Haaren blitzt es feucht. Lanke oder Lehmke lobt die Fruchtbarkeit des hiesigen Mutterbodens. Das Feuchte verwässert und verschwimmt zusehends. Es spielt sich eine Tragödie ab, der wir nur stumm zusehen können. Sie nimmt ihren Lauf und kommt zum Stehen. In ihrer Tigerhaftigkeit ist sie beinahe gestreift.

Larmke verabschiedet sich und zerfließt. Dennis und Olli wissen, dass das Feuchte zwischen den Haaren Sterne oder Augen sind, aber ganz gewiss keine Tränen. Ich und Alfine wissen es nicht. Der Mann mit dem entblößten Bauch hält sich heraus. Dank ihm gelangen wir in einen Bereich, der mehr seitlich ist und sich zum Vorhergegangenen verhält wie etwas Dunkleres, Schwappenderes. Er zwingt uns zu gravitätischem Schreiten und etwas, das wir vorläufig »Umherlagern« nennen wollen. Rückblickend gelangen wir aufs Dach. Antennen sind auf- oder abgestellt. Die Verteilung wirkt ärgerlich. Wir stampfen mit dem Fuß auf und nehmen trotzig Antennenhaltung ein. So sehr wir uns auch Bilder und Stimmen zuwehen lassen, die anderen Empfangsgeräte wollen unserem Beispiel nicht folgen. Durch die Luft strömt uns das Wissen zu, dass wir es doch gewesen sind.

Wir kehren an den Ort des Geschehens zurück. Wo der Mann lag, liegt jetzt eine Blume. Für uns alle deutlich spürbar, verwandelt sich etwas in sein Gegenteil. Niemand will darüber sprechen. Es wird kalt. Raureif breitet sich an den Wänden aus. Wir fangen in gespielter Unbekümmertheit Herabfallendes mit den Zungen und tun weiterhin so, als sei es Schnee gewesen. Eine Zeit lang bricht ein Wettbewerb aus, einander an Fröhlichkeit zu übertrumpfen. Olli reißt sich den Mund mit beiden Händen auf und nimmt schließlich Alfines Gliedmaßen zur Hilfe. Ich halte mir den Bauch und versuche etwas mehr Getragenes, Sachliches, unter dessen Oberfläche - wenn es eine Oberfläche gibt, es ist deutlich, aber, wiederum ohne dass jemand darüber spräche, diffus und gerade auch hinsichtlich seiner Dimensionen ungeklärt - etwas eigentlich ziemlich Langweiliges den Anschein des Lauerns zu erwecken versucht.

Wie auf eine geheime Verabredung hin brechen wir die Scharade ab und streichen uns die Kleider glatt. Das Streichen produziert ein fast schon gefälliges Geräusch, das in großen Schritten treppabwärts eilt und rasch die ganze Stadt erfasst. Aus dem Streichen wird ein Schaben, das seinen kratzenden Charakter gar nicht erst zu verleugnen sucht. Auch von uns fallen jetzt Dinge ab, die allerorten mit großer gespielter Kunstfertigkeit aus dem Luftraum geleckt werden. Einige Menschen ergreift allerdings Schrecken angesichts der sich einstellenden Sauberkeit. Wir wollen nicht verschweigen, dass es uns ähnlich geht.

Jetzt ist der Damm gebrochen und Alfine spricht alles aus. Dennis redet in die Lücken hinein. Ich behaupte das Gegenteil. Olli greift in seiner Verzweiflung zu Lügen. Jetzt erkennen wir, dass die Fäden unseres Gesprächs des Geflecht waren, in dem wir uns durch einen kleinen Fauxpas bereits früher schon verfangen hatten. Wir müssen über diese menschliche Schwäche recht herzlich lachen und werden die besten Freunde.

Über die Jahre, Jahrzehnte zerstreut sich alles. Von der Freundschaft bleibt ein Gefühl, das eventuell auch eine Regung sein könnte oder auch nur ein bloßer Eindruck, ein Abdruck von etwas gewissermaßen Vergessenem, wie halb Erinnertem, aber keinesfalls Traumartigem, das sich im Tierkreis sicherlich zwischen Luft- und Feuerzeichen einordnen ließe und dort Würmern und Buchkäfern Heimat böte. Rührung ist da, wie unser Beisammensein einen Sinn bekommen hat, der über uns hinausweist. Ein dicker, fleischiger Zeigefinger weist da, der in unangenehmem Kontrast steht zu der Geschichte mit dem Toten im Fahrstuhl, die halb verborgen hinter Vorsprüngen und Ecken durch unser täppisches, ja ungeschicktes Handeln ganz verschliert und umhergelagert war.

Hastig und ziemlich schlampig interviewen wir noch die Bienenangler, die sich leider, leider als arg durchschnittliche Hipster entpuppen, die im Wesentlichen auch nur ironisch etwas baumeln lassen und jedweden Zufallsfang pflichtbewusst wieder zurück in die Luft werfen. Am Interessantesten finden wir noch diejenigen von ihnen, die mit ausgebreiteten Armen übers Dach laufen, immerzu »Summ, summ, ich bin eine Biene« rufen und ausgedachte Eier bebrüten. Dumm, aber krass. Wie eigentlich fast alles.

Im Triumphzug fliegen wir per Fax zurück nach München. In der Redaktion heißt man uns als Helden willkommen. Es folgen preisgekrönte Reportagen wie »Auf Crack von Wolken erdrückt«, »Kiemenatmung oder Lungenatmung: der Autor bleibt lange liegen« oder »Im Dunkeln etwas Unkenntliches zusammen- und wieder auseinanderbauen«. Wir sind gemachte Männer und tragen allerlei Herstellungszeichen. Im Alter erinnern wir uns manchmal mit Wehmut an die Zeiten des Ausgedachtseins.