Wie Bücher Brücken schlagen

Suzanne Visentini über die ehrenamtliche Arbeit in Flüchtlingsinitiativen und die Bedeutung von Bibliotheken in Geflüchtetenunterkünften

  • Samuela Nickel
  • Lesedauer: 6 Min.

In Berlin gibt es zur Zeit zwei sogenannte Asylotheken. Die erste eröffnete im November 2015 in der Gemeinschaftsunterkunft in der Rennbahnstraße in Weißensee. Seit April 2016 gibt es eine weitere am Columbiadamm in Tempelfhof. Allerdings ist es ein Auslaufprojekt, da die Unterkunft in den Hangars schließt. Derzeit ist die zweite Asylothek auf der Suche nach einem neuen Standort.

Was genau ist eine Asylothek?
Eine Asylothek ist eine Asylbewerberheim-Bibliothek. Ein doch sehr sperriges Wort. Es wirkt befremdlich und vielleicht auch ein bisschen provozierend. Der Name selbst kommt von dem Architekten Günter Reichert aus Nürnberg, der 2012 die Idee hatte, eine Bibliothek beziehungsweise Bücher für Geflüchtete zur Verfügung zu stellen.

Zur Person

Suzanne Visentini arbeitet bei einem Wissenschaftsverlag und seit 2016 engagiert sie sich ehrenamtlich in den Berliner Asylotheken. Da sie beruflich akademische Bibliotheken betreut, lag es ihr nahe bei den Bücherregalen in den Gemeinschafts- und Notunterkünften mit anzupacken. Mit ihr sprach Samuela Nickel.

Und warum werden die Asylotheken dann nicht Bibliotheken genannt?
Weil sich in allererster Linie die Standorte dieser Bibliotheken in Notunterkünften oder Gemeinschaftsunterkünften befinden. Die Asylothek ist auch noch etwas anderes als eine Bibliothek. Sie ist ein Ort für den Austausch zwischen geflüchteten Menschen und denjenigen, die schon länger irgendwo wohnen. Die Bewohner in den Heimen bekommen Zugang zu Büchern und weiteren Medien und erhalten Informationen zu Deutschland und Berlin. Sie können einerseits Bücher ausleihen, aber sie finden eben in den Asylotheken auch Kontakte und Ansprechpartner. Also ist es ein Begegnungsort, wo man sich kennen lernen kann, wo man spielen oder Musik machen kann und wo man zusammen Workshops abhalten kann.

Wie kam es zu der Eröffnung der beiden Asylotheken in Berlin?
Wir haben damals lange nach Möglichkeiten gesucht , wo wir uns ansiedeln können. Zuerst hat sich der Standort in Weißensee, in der Gemeinschaftsunterkunft in der Rennbahnstraße, ergeben. Und dann wurde Tempelhof als Notunterkunft eröffnet und das war für uns ein reizvoller Standort. Natürlich einerseits, weil es ein sehr prominenter Standort ist. Und abgesehen davon ist die Größe einfach für uns eine gute Möglichkeit gewesen, doch wesentlich mehr Menschen zu erreichen. Der Unterschied zwischen den beiden Asylotheken ist, dass die eine in Weißensee nicht öffentlich zugänglich ist. Wir fanden es aber sehr gut und sehr wichtig, dass die Nachbarn und Bewohner in Kontakt kommen.

Welche Bücher und Medien gibt es in den Asylotheken?
Wir haben momentan in Tempelhof ungefähr 650 Bücher. Das sind hauptsächlich Sprach-, Lehr- und Wörterbücher und Materialien zum Deutsch lernen. Einer unserer Schwerpunkte ist nämlich die Unterstützung beim Spracherwerb. Aber wir haben auch E-Reader, Comics oder auch mehrsprachige Bildbände – also Bücher, wo es nicht viel Text braucht, um sie zu verstehen. Es ist uns auch ein Anliegen, neben den Büchern zum Sprachen lernen auch die Lektüre in den jeweiligen Muttersprachen bereitzustellen. Daher haben wir auch einen Schwerpunkt auf Literatur in Arabisch – aber wir haben auch Bücher in Farsi, Dari, Paschtu, Russisch, Bosnisch, Serbisch und natürlich auch englische Bücher.

Beim WelcomeCamp Berlin an diesem Samstag vernetzen sich Initiativen, Organisationen und ehrenamtliche Helfer. Sie nehmen zum zweiten Mal an dem Barcamp teil. Warum sind Sie wieder mit dabei?
Ich bin letztes Jahr dabei gewesen, weil mir die Möglichkeit eines Barcamps gefiel. Ich finde das interessant, weil man mitgestalten kann. Und ich fand den Austausch, so niederschwellig und direkt mit anderen Initiativen, unglaublich interessant. Auch die Erfahrungen zu sammeln, dass andere mit den gleichen Problemen kämpfen und sich darüber auszutauschen, wie man mit diesen Problemen fertig wird, gerade wenn man ehrenamtlich arbeitet.

Was erhoffen Sie sich von dem diesjährigen WelcomeCamp?
Was ich mir wünschen würde, ist, dass anders als letztes Jahr auch tatsächlich viele Geflüchtete oder Neuberliner dazukommen. Insofern erhoffe ich mir, dass man sich auch mit ihnen austauscht. Denn häufig hat man das Gefühl, dass man zwar tolle Ideen hat, aber vielleicht sind sie auch am Bedarf vorbei.

Mit welchen Problemen haben Flüchtlingsinitiativen häufig zu kämpfen?
Das Hauptproblem ist tatsächlich, Menschen zu finden, die verbindlich an einem Projekt zusammenarbeiten, regelmäßig da sind und auch dabeibleiben. Da gibt es diese anfängliche Euphorie - viele wollen helfen - aber dass die Menschen durchhalten, ist oft leider nicht der Fall und wird zu einem großen Problem für viele Initiativen.

Sie haben auch die Erfahrung gemacht, dass es schwer ist, mit ihrem Angebot insbesondere geflüchtete Frauen und Mädchen zu erreichen. Woran liegt das?
Unsere Erfahrung ist, dass Frauen sich nicht trauen, Angebote anzunehmen.Unsere Einsicht war, dass wenn wir Veranstaltungen gemacht haben, die offen waren für beide Geschlechter, hauptsächlich Männer und Kinder gekommen sind. Wenn wir geschützte Räume oder geschützte Veranstaltungen ausschließlich für Frauen angeboten haben, ist es einfacher gewesen, aber trotzdem nicht leicht. Das ist auch ein Thema, mit dem sich sehr viele Initiativen beschäftigen.

Wie wichtig ist die Bereitstellung des Grundangebots an Bildungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten, wie es die Asylotheken geben?
Ich halte es für sehr sehr wichtig, weil die offiziellen Integrationskurse oder Deutschkurse nicht immer alle erreichen. Viele Bewohner müssen auch lange warten, ehe sie daran teilnehmen können. Insofern haben diese niedrigschwelligen Angebote, wie wir sie jetzt machen, nach wie vor eine ganz große Berechtigung. Und es geht auch nicht darum, in einer Lernumgebung, wie das ja in offiziellen Kursen der Fall ist, Wissen zu vermitteln, sondern darum, tatsächlich ein Kennenlernen möglich zu machen. Wir verstehen uns einfach als Ansprechpartner für alle möglichen Fragen. Wir bieten sozusagen ein offenes Ohr. Zum Beispiel vermitteln wir Patenschaften oder geben Tipps bei der Wohnungssuche. Es geht im weitesten Sinne um Nachbarschaftshilfe.

Sind die Bücher dann eine Art Berührungspunkt zwischen den Menschen und ihrem neuen Zuhause?
In Deutschland sind viele schon von klein auf an den Umgang mit Büchern gewöhnt – das geht ja wirklich relativ früh los. Und vieles kann man einfach auch über das Lesen transportieren. Wir halten Bücher und Medien wir für eine gute Möglichkeit, damit man auch die Menschen in Deutschland verstehen kann. Wir sehen uns tatsächlich als eine Art Brücke in die hiesige Lesekultur. Viele der Bewohner haben in der Vergangenheit kaum oder wenig Berührungspunkte mit Deutschland gehabt. Brauchten sie ja auch nicht.

Wir verstehen wir uns aber auch als eine Brücke in die öffentlichen Bibliotheken. Denn vielleicht wird es uns ja irgendwann gar nicht mehr geben müssen, weil eine gewisse Normalität eingekehrt sein wird und die Menschen eben nicht mehr in Gemeinschaftsunterkünften oder gar Notunterkünften leben müssen. Dass Menschen dann den Weg in eine öffentliche Bibliothek schon kennen ist uns ein Anliegen.

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