G20-Proteste: Selbstjustiz im Internet

Gerüchte, Falschmeldungen und Fahndungen rund um das Gipfeltreffen in Hamburg

  • Fabian Hillebrand
  • Lesedauer: 4 Min.

Selten war ein Protest medial so gut konsumierbar wie die Aktionen gegen den G-20 Gipfel letztes Wochenende in Hamburg. Vom Wohnzimmer aus konnte man die Erstürmung einer Hauses durch das mit Sturmgewehren bewaffnete SEK im Livestream verfolgen, auf Twitter gab es sekündlich Updates über die Situation im Schanzenviertel inklusive hunderter ins Netz gestellter Smartphone-Videos. Und bei all den Artikeln von Journalisten vor Ort hätte man den Eindruck gewinnen können, die versammelte Presselandschaft Deutschlands hatte sich im Schulterblatt getroffen.

Eigentlich hätte ein solches Setting für eine klare Berichterstattung sorgen können. Aber die Kommentierung des Geschehens verläuft gänzlich unverbunden nebeneinander. Das Überangebot an Informationen schaffte anstatt Eindeutigkeit einige Grotesken. Neben den zu solchen Anlässen üblichen Beschimpfungen und Pöbeleien gegen »Linksfaschisten« verbreiteten sich während des Wochenendes auch immer wieder Falschmeldungen. So zum Beispiel die Nachricht, dass das Krankenhaus St. Georg beziehungsweise die Notaufnahme und ein Kindergarten angegriffen worden seien. Auch das Gerücht, der Polizei sei eine Dienstwaffe geklaut worden sein, bestätigte sich im Nachhinein nicht. Genauso wenig wie die Meldung der Hamburger Polizei, am Samstagabend wäre es erneut zur Plünderung eines Supermarktes gekommen. Eine Stunde später ruderte selbige zurück. Plünderungen gab es in der Nacht von Freitag auf Samstag - in der Nacht darauf nicht.

Das Problem an solchen Falschmeldungen: Sie verbreiten sich viel besser als die ihr folgenden Dementis. Und eine Nachricht, die in den Medien nicht aufgegriffen wird, ist deshalb noch nicht falsch. »Wo bleibt die Berichterstattung über das St. Georg Krankenhaus?«, fragen sich Nutzer auf Twitter und beschuldigen die »Lückenpresse« die Randalierer schützen zu wollen.

Eine besonders gefährliche Form solcher Falschmeldungen sind Fahndungsaufrufe gegen einzelne Personen, die in den sozialen Medien verbreitet werden. Über das gesamte Wochenende sind dort immer wieder Fotos von Menschen aufgetaucht, die angeblich an den Ausschreitungen beteiligt gewesen sein sollen. Wahlweise mit der Aufforderung, Selbstjustiz zu üben oder die Informationen an die Polizei weiterzugeben. Ein besonders brisanter Fall vom Wochenende: Die »Bild«-Zeitung veröffentlicht ein Bild von einem Mann, der einen Böller auf einen Polizisten geworfen haben soll. Das Gesicht des Mannes zeigt die »Bild«-Zeitung unverpixelt.

Die Meldung wird von rechtsextremen Kreisen kolportiert. Sie vergrößern den Gesichtsausschnitt des vermeintlichen Angreifers und versehen das Foto mit der Aufforderung, den Demonstranten ausfindig zu machen. Die Polizei und die »Bild«-Zeitung dementieren dann. Der auf dem Bild zu sehende Mann sei nicht tatverdächtig, es gebe auch keinen Polizisten, der sein Augenlicht verloren hat. Vergeblich. Der Beitrag wurde innerhalb eines Tages mehr als 50.000 Mal geteilt. Mit gravierenden Folgen: Zahlreiche Gewaltaufrufe sind auf Facebook und Twitter gegen den unschuldigen Mann zu finden.

Auch abseits des G20-Gipfels sind Fahndungsaufrufe im Netz schon lange ein Problem. So in Emden 2012, als eine Menschenmenge vor dem Polizeirevier in der Kleinstadt die Herausgabe des vermeintlichen Mörders einer Elfjährigen forderte. Vorher hatte sich die Meldung seiner Festnahme in den sozialen Medien verbreitet.

Der wohl bekannteste Fall von falschen Online-Fahndungen ereignete sich nach dem Anschlag auf den Boston Marathon 2013. Nutzer des sozialen Netzwerkes Reddit begannen eine Fahndung nach dem möglichen Täter. Zahlreiche Unschuldige gerieten dabei ins Visier der Hobby-Detektive.

Doch es gibt auch Menschen aus der Zivilgesellschaft, die dagegen arbeiten. So hat Lutz Helm die Hoaxmap mitinitialisiert. Auf ihr werden Falschmeldungen über Geflüchtete wiederlegt und dokumentiert. In Zeitungen hätte es Falschmeldungen schon immer gegeben, sagte er gegenüber »nd«. Es sei schade, dass dort oft nicht nach journalistischen Mindeststandards gearbeitet werde. Durch die sozialen Medien bekommen solche Meldungen massive Resonanz. Es sei schwierig, Meldungen zu stoppen, wenn sie einmal im Umlauf sind. Ganz wichtig sei es daher, eine Sensibilität für Falschmeldungen zu entwickeln.

Doch viele Meldungen sind auch politisch motiviert. »Sie verfolgen ein bestimmtes Ziel und spiegeln eine Haltung wieder«, sagt Helm. Dort, wo bewusst gefälscht wird, seien konkrete Fakten egal. Es gehe also bei Falschmeldungen immer auch um Meinungsmache und das Erzeugen von politischen Stimmungen in den eingenen Resonanzräumen. Ob das Gerücht um die Räumung der Flora, die von »Bild« und »Welt« kolportierten Falschmeldungen über verletzte Polizisten oder die Fahndungsaufrufe rechtsextremer Netzwerke – auch rund um den G20-Gipfel wurde mit Gerüchten, Falschmeldungen und Fahndungen Politik gemacht.

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