»Es war, wie an eine Klippe zu gehen«

Lena Gorelik kann mit »Mehr Schwarz als Lila« eine »Tür zur Seele« öffnen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Womöglich hat es so ein Bild im Netz wirklich gegeben, und es wurde zu Recht gelöscht: ein Kuss vor dem Galgen in Auschwitz, und das Mädchen sah dabei alles andere als liebevoll aus … Weil Lena Goreliks neuer Roman von zwei Siebzehnjährigen handelt, könnte man ihn leicht in die Sparte »Jugendbuch« einordnen, Gleichaltrige werden in wohl auch mit Gewinn lesen, aber zum Glück ahnten die Lektoren bei Rowohlt, wie das Buch auch in viel Älteren nachhallen würde, was gar nicht mal so sehr an der Geschichte selber liegt, sondern an der Art, wie die 1981 in Petersburg geborene, auf Deutsch schreibende Autorin damit umgeht.

»Ein Jüngling liebt ein Mädchen. Das hat einen andern erwählt …« Dass sich solches immer wieder neu ereignet, kann so lapidar festgestellt werden, wie Heinrich Heine es tat. Und dass eine Schülerin sich in einen Lehrer verknallt, hier ist es ein Referendar, dürfte auch nicht so selten sein. Aber der Roman ist so, dass man sich plötzlich ganz hell erinnert, wie man selber mit Siebzehn gedacht hat, nein nicht nur das: Was einem davon immer noch geblieben ist. Das wird einem beim Lesen eine Fröhlichkeit geben, eine Lebendigkeit, und man wird es nicht auf die Handlung im Ganzen oder auf einzelne Sätze zurückführen können, sondern auf die besondere Atmosphäre, die in diesem Roman herrscht.

Die Ich-Erzählerin heißt Alexandra und nennt sich Alex, so wie ihre Freundin Nina Ratte heißen will. Nur Paul ist Paul, und er ist, wir werden es sehen, von einer Stärke, die man auf den ersten Blick gar nicht sieht. Den Referendar, Herrn Spitzing, nennen sie Johnny. Sie schwärmen für ihn, weil er anders unterrichtet als die Lehrer sonst. »Es war anders, wenn wir dein Klassenzimmer verließen: Eine andere Welt betreten ... Wir hatten diese Arroganz, da wir gerade von dir kamen, da wir gerade das Leben diskutiert hatten, das Große und Ganze und alles, was dahintersteht … Wir waren arrogant, nach dir.«

Aber es wird ja rückblickend erzählt. Den Ton dafür musste Lena Gorelik erst einmal finden. Keine Abrechnung, keine Reue, sondern sich selbst, wie man war und sich verhielt, ins Jetzt integrieren. Alex ist stolz darauf, was sie über Stilfiguren lernte. Besonders die Ellipse und das Hysteron-Proteron: »Ich habe auf dich gehofft, um dich gehen lassen zu können.« Das Buch ist voller Sprachmagie, weil die Gestalten getröstet sein wollen. Selbst dieser Herr Spitzing, den wir unverantwortlich nennen dürfen, aber nicht vergessen sollten, dass da auch eine sehnsuchtsvolle Seele ist. Ein Selbstverliebter und dabei doch Ängstlicher? Da gäbe es viele. Aber dabei ein Begabter, ein Talent für seinen Beruf.

Lena Gorelik ist es wichtig gewesen, dass alle Gestalten im Buch ihre Abschürfungen haben, etwas, worüber sich schwer sprechen lässt. Deshalb ist der Roman so voller Sprachbilder. »Wir waren schnelle, aber unsichere Antilopen, und wir hielten dich gerne für einen Löwen, und du wolltest vielleicht überhaupt kein Tier sein.« Oder: »Wir spielten Spiele, um zu spüren und zu fliehen, aber wir sagten fliegen dazu. Wir spielten, um zu fliegen.«

Beneiden wir die drei Freunde ruhig ein wenig, wir planvollen und gehetzten, wir allzu oft müden Erwachsenen. »Das Profilbild unserer Whats᠆App-Gruppe ist ein Affe mit drei Köpfen, der in Einsteins Haaren sitzt.« Beneiden wir sie nicht: Wie demonstrativ müssen sie sich geben, was alles anstellen, um ihr Selbst zu spüren, dem ein auf andere Weise gehetztes Ich im Wege steht.

Etwas werden, etwas sein. Im Buch ist nicht von Leistungsdruck die Rede und auch von Existenzängsten der Eltern nicht. Berufswünsche und Perspektiven werden nicht angesprochen. Vielleicht weil das noch ein Stück angehaltene Zeit ist, bevor der Schulabschluss Entscheidungen nötig macht, vielleicht auch Trennungen bringt. Noch ist da die Illusion vollkommener Freiheit, um miteinander eine »Tür zur Seele« zu öffnen. »Da war etwas in uns, es war wie an eine Klippe zu gehen, ganz nah an den Abgrund, aber nicht zu springen.« Spiele, die Grenzüberschreitungen simulieren - bis zu jenem ernsten Ort, wo alles Spielerische enden muss.

Wir spüren, wie Popsongs den riskanten Ausdruck von Gefühlen ersetzen müssen, in englischer Sprache ins Buch eingefügt, weil es auf Deutsch sentimental klingen würde. Und der verhängnisvolle Kuss in Auschwitz ist das Gegenteil von einem Kuss. »Niemand hat diese Geschichte verstanden, und ich kann ihnen das Warum nicht erklären.«

Und dann ist auch noch der Papagei weggeflogen, den Alex nach dem Tod ihrer Mutter zum Geburtstag bekam. Der Buchtitel »Mehr schwarz als Lila« steht auf dem Titelbild in weißen Buchstaben auf leuchtend grün-rotem Gefieder.

Lena Gorelik: Mehr Schwarz als Lila. Roman. Rowohlt Berlin. 251 S., geb., 19,95 €.

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