Ein Urteil und viele offene Fragen

Das Bundesverfassungsgericht weist die Beschwerden von Gewerkschaften gegen die »Tarifeinheit« ab

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Streit um das 2015 in Kraft getretene Gesetz zur Tarifeinheit ist vorerst das letzte Wort gesprochen - und doch bleiben Fragen offen. Die Verfassungsrichter in Karlsruhe lehnten mehrere Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz ab. Die Beschwerden waren von Spartengewerkschaften wie der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, aber auch der DGB-Gewerkschaft ver.di eingereicht worden, da diese die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht gefährdet sahen. Die IG Metall und die IG BCE, ebenfalls Mitgliedsgewerkschaften des DGB, hatten das bisher nicht zur Anwendung gekommene Gesetz aus dem Haus von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) unterstützt.

Die Karlsruher Richter erklärten nun, das Gesetz sei weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar. Mit der Einschränkung allerdings, dass bis Ende 2018 Änderungen daran vorgenommen werden. Diese sollen sicherstellen, dass auch die Belange der Mitglieder von Minderheitengewerkschaften nicht vernachlässigt werden. Bis zu einer Neuregelung, so das Urteil, darf ein Tarifvertrag im Fall einer Kollision im Betrieb nur verdrängt werden, wenn »plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.«

Wie die geforderten Nachbesserungen zum Schutz kleiner Gewerkschaften aussehen werden, ist offen. Unklar ist auch, wie genau festgestellt werden soll, ob die Minderheit in einem Mehrheitstarifvertrag ausreichend berücksichtigt wurde.

Die Minderheitengewerkschaften könnten bei Anwendung das Gesetzes empfindlich getroffen werden. Denn es sieht vor, dass bei konkurrierenden Tarifverträgen in einem Betrieb allein der Abschluss mit der mitgliederstärksten Gewerkschaft gilt. Schon die Klärung, auf welche Gewerkschaft das zutrifft, kann zu Streit führen. Die Karlsruher Richter delegierten die Frage weiter: Wer die meisten Mitglieder hat, sollen im Zweifel Arbeitsgerichte entscheiden. Meist werden Gewerkschaften betroffen sein, die einzelne Berufsgruppen wie Lokführer, Ärzte oder Piloten organisieren. Gerade diese haben in den vergangenen Jahren häufig und intensiv für ihre Anliegen gestreikt. Andrea Nahles wurde daher häufig vorgeworfen wurde, sie wolle mit dem Gesetz in erster Linie den Arbeitgebern dienen und Streiks unterbinden. Das hat die Ministerin stets von sich gewiesen. Sie verteidigt ihr Gesetz mit dem Argument, Machtkämpfe zwischen konkurrierenden Gewerkschaften verhindern zu wollen, indem das Prinzip »Ein Betrieb, ein Tarifvertrag« wiederhergestellt werde, das bis 2010 jahrzehntelang in Deutschland gegolten hatte.

Anzeichen dafür, dass das Gesetz tatsächlich zu mehr Kooperation unter den Gewerkschaften führen wird, gibt es bisher nicht. Im Gegenteil: Mehrere Spartengewerkschaften haben bereist angekündigt, sich auf ganze Branchen ausdehnen zu wollen, sollte das Tarifeinheitsgesetz in Kraft bleiben und tatsächlich zur Anwendung kommen. Im Gesundheitsbereich oder im Flugverkehr könnten die DGB-Gewerkschaften dann mit harter Konkurrenz konfrontiert sein. Die Regelung werde den Wettbewerb zwischen den Gewerkschaften anheizen, sagte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis. »Anstatt Ruhe trägt das Urteil Unfrieden in die Betriebe«, so Kocsis nach der Urteilsverkündung. Zwar sei das Gesetz in Teilen für verfassungswidrig erklärt worden, insofern habe sich die Beschwerde gelohnt. Die Lösung von Tarifkonflikten überlasse es aber den Arbeitsgerichten, sagte Kocsis.

Arbeitsministerin Andrea Nahles begrüßte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das Gesetz stärke die solidarische Interessenvertretung durch die Gewerkschaften, erklärte sie. Lob kam auch aus der Wirtschaft. Mittelstandspräsident Mario Ohoven sagte, das Tarifeinheitsgesetz stärke den Standort Deutschland. »Damit werden die Möglichkeiten von Spartengewerkschaften beschränkt, das gesamte Wirtschaftsleben in unserem Land lahmzulegen«, so Ohoven. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer erklärte: »Heute ist ein guter Tag für die Soziale Marktwirtschaft.« Ähnlich äußerten sich die Deutsche Bahn und der Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Die IG Metall, die die Tarifeinheit grundsätzlich befürwortet, wollte sich am Dienstag nicht äußern. Die Linkspartei bedauerte das Urteil. »Wir hätten uns gewünscht, dass Andrea Nahles‘ Tarifeinheitsgesetz komplett gekippt wird«, sagte Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag. »Nichtsdestotrotz zeigt sich am Urteil, dass die Bundesarbeitsministerin die Grenzen des Grundgesetzes deutlich überdehnt hat«, so Ernst. Mit Agenturen

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