nd-aktuell.de / 12.07.2017 / Klima und Wandel

Die offenen Schulden von Hamburg

Eine neue Ethik der Organisation des Lebens ist nötig / Konventionelle Entwicklung und Fortschritt führen in eine Sackgasse

Alberto Acosta

Über die gewöhnlichen Lesarten und Analysen zur kompromissformelhaften G20-Abschlusserklärung und Ergebnissen des Treffens der mächtigsten Regierungsführer der Erde hinaus kann mit absoluter Gewissheit festgestellt werden, dass in Hamburg zu einigen Punkten entweder gar kein Fortschritt erzielt wurde. Oder dass vor anderen Problemen auf rekordverdächtige Art und Weise die Augen geschlossen wurden. Beim Klimaabkommen von Paris haben die Vereinigten Staaten ihre Position beibehalten. Recep Erdogan, umstrittener Präsident der Türkei, kündigte an, unter seiner Führung werde das türkische Parlament das Abkommen nicht ratifizieren. Für die Menschheit ist das bedauernswert. Was im kalten Dezember 2015 in der französischen Hauptstadt für das Klima vereinbart wurde, ist eher lauwarm. Was Donald Trump lostritt ist schwerwiegend: Nicht mehr vom Selben, sondern mehr vom Schlimmen.

Außen vor blieb in Hamburg die Frage der Auslandsverschuldung. Eine Situation, die 116 Länder rund um den Globus schwer belastet, die sich vor allem durch das herrschende System erklärt, das die Auslandsschuld historisch zu einem Machtinstrument der großen Mächte hat werden lassen. Es ist traurig, dass es nach einigen Fortschritten auf dem Treffen der G20-Finanzministerin in Baden-Baden in der Hansestadt überhaupt gar keine Rolle gespielt hat. Wir erinnern uns: In der Stadt des Kasino-Glückspiels in Baden-Württemberg hatten die Finanzminister über internationale Richtlinien zur nachhaltigen Finanzierung der Weltwirtschaft nachgedacht. In Hamburg: Fehlanzeige. Stattdessen mehr vom Alten.

Zusammen mit den Auslandsschulden bleiben mit der sozialen und ökologischen viele andere Schulden offen. Wir kennen die Armut und Misere, die durch die Auslandsschulden entstehen. Und die - so gut wie immer ohne Erfolg - von den altbekannten Politiken des Weltwährungsfonds versucht gelöst zu werden. Die daraus entstandenen sozialen Folgen bilden eine große soziale Schuld, bei der die Gläubiger die Schuldner der sozialen Schuld sind. Auf der ökologischen Seite müssen die potenten Wirtschaftsmächte ihrer Verantwortung gerecht werden und für die der Natur zugefügten Schäden aufkommen. Mit anderen Worten: Sie müssen ihre ökologische Schuld eingestehen. Und zahlen. All diese Schulden, sie brauchen neue, demokratische Kämpfe. Was sie nicht brauchen ist die sinnlose Zerstörung durch einige wenige, wie jetzt in Hamburg passiert, die mit ihrer Kurzsichtigkeit der staatlichen Gewalt in all seinen Formen weiter Nahrung und Rechtfertigung liefern.

Es geht hier nicht nur um die Klimaschuld. Die ökologische Schuld geht auf die koloniale Ausbeutung zurück, der Raubbau der Rohstoffe in der Silberstadt Potosí im heutigen Bolivien zum Beispiel. Die massive Abholzung der Wälder zum Beispiel. Wir haben es hier mit einem ungleichen ökologischen Austausch zu tun, etwa durch die kostenlose Aneignung von Umwelträumen in den verarmten Ländern durch den zerstörerischen Lebensstil der Industrieländer.

Eingerechnet werden muss auch der Druck auf die Umwelt, der über den Rohstoffexport aus den unterentwickelten Ländern entsteht, meistens schlecht bezahlt und ohne die Einbeziehung von Nährstoff- und Biodiversitätsverlust. Dieser Druck wächst durch die zunehmenden Anforderungen, die durch die extreme Markt- und Handelsöffnungen und die Bedienung der Auslandsschulden entstehen. Die ökologische Schuld wächst auch dadurch, dass die reichsten Industrieländer ihre nationalen Umweltbilanzen längst überschritten haben, und Verschmutzung direkt oder indirekt (Müll und Emissionen) in andere Weltregionen verlagern ohne dafür zu zahlen. Auch Biopiraterie durch globale Multis gehört zur Schuld des Nordens gegenüber dem Süden.

Die durch die Überschreitung der Umweltgrenzen verursachte Krise führt uns natürlicherweise zur Infragestellung der Institutionen und Organisation von Politik und Gesellschaft. Wir müssen uns bewusst sein, dass »in der ökologischen Krise nicht nur die Ressourcen des Ökosystems überlastet, verzerrt und aufgezehrt werden, sondern auch die Systeme sozialer Funktionsweisen. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Den institutionalisierten Formen gesellschaftlicher Regulierung wird zu viel abverlangt, die Gesellschaft verwandelt sich in ein ökologisches Risiko« (Egon Becker). Dieses Öko-Risiko erweitert Tendenzen des Ausschlusses und des Autoritarismus genauso wie der Kapitalismus die Ungleichheit befeuert.

Es ist eine neue Ethik der Organisation des Lebens nötig. Es muss anerkannt werden, dass konventionelle Entwicklung und Fortschritt uns in eine Sackgasse ohne Ausweg führen. Die natürlichen Grenzen, die von den Anforderungen der Kapitalakkumulation strapaziert werden, werden immer schneller überschritten. Statt der Trennung von Natur und dem Menschen müssen sich beide wiedertreffen. Die Wirtschaft muss sich den Bedürfnissen von Gesellschaft und Ökologie unterordnen. Diesen historischen Weg zu begehen, also den Schritt weg von einer anthropozentrischen Konzeption hin zu einer sozio-biologischen (dabei handelt es sich um ein Raster harmonischer Beziehungen ohne ein Zentrum), dieser Pfad ist die größte Herausforderung der Menschheit. Eine Herausforderung, die nicht von den G20 geschafft werden kann, da es sich hier um eine Weltregierung der Mächtigen handelt. Und die sind allein an der Verteidigung ihrer Privilegien interessiert, die ihre Legitimation ausschließlich in der Macht einiger weniger Nationen begründen.

Übersetzung: Benjamin Beutler