Krawall von der Couch

Das Computerspiel »Riot Simulator« ermöglicht das Nachspielen von Straßenschlachten

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer angefangen hat, ist schwer zu sagen. Feuerwerk wird auf Polizisten geschossen, diese antworten mit Tränengas. Demonstranten weichen zurück, einige beginnen, sich zu vermummen. Als die ersten Steine fliegen, rennt eine Hundertschaft mit erhobenen Schlagstöcken brüllend auf uns zu. Geschrei, Gerangel, Festnahmen. Langsam löst sich die Gruppe auf. Das war es wohl erst mal für mich. Zähneknirschend stehe ich von der Couch auf und hole mir ein Stück Pizza. Immerhin: Ich habe keine blauen Flecken und wurde nicht festgenommen. Mit allen Gemeinheiten bin ich davongekommen. Liegt aber wohl an der Umgebung: Die Straßenschlacht fand nur auf dem Computerbildschirm statt. Alle Beteiligten waren kleine Pixelfiguren. Sie wirken nicht nachtragend.

Leonard Menchiari, der Entwickler des noch nicht veröffentlichten Spiels »Riot Simulator« (Randale-Simulation), weiß, wovon er spricht. Gewalttätige Proteste gegen eine Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke hatte der Italiener selbst miterlebt. In der »No TAV«-Bewegung versuchen Anwohner und Aktivisten seit Jahren, die umstrittene Verbindung zwischen Turin und Lyon zu verhindern - eine Geldverschwendung und eine Gefahr für die Umwelt, sagen sie. In italienischen Medien ist von den Protesten kaum etwas zu hören. »Nachdem ich sah, wie Fernsehen und Zeitungen Millionen von Menschen brutal ins Gesicht gelogen haben, wollte ich die andere Seite aufzeigen«, sagt Menchiari in einem Interview. Die regelmäßigen Scharmützel an den Baustellen der Strecke stellen nun ein Szenario in seinem Computerspiel dar. Die weiteren Hauptkampagnen mit insgesamt 20 Level behandeln den Konflikt in der griechischen Kleinstadt Keratea, wo sich Anwohner 2010 gegen die Errichtung einer Müllhalde zur Wehr setzten, die Platzbesetzungen der »Empörten« 2011 in Spanien sowie die Auseinandersetzungen im selben Jahr auf dem Tahir-Platz während der ägyptischen Revolution. Texttafeln erklären die politischen Hintergründe der Proteste.

Die Optik basiert auf einer altmodischen 2D-Grafik, das Interessante ist der Inhalt: Eingebettet in eine zeitgeschichtliche Erzählung kämpfen Demonstranten gegen Polizisten. Bis zu vier Spieler können dabei auswählen, welche Seite sie als Menge steuern. Ziel ist es vorrangig, einen Platz zu halten, was sowohl mit friedlicheren als auch gewaltvolleren Strategien möglich ist. Die Situation und damit die taktischen Anforderungen hängen stark von der jeweiligen Dynamik ab und können sich jederzeit ändern. Die Bedingungen sind für die Parteien unterschiedlich: Als Krawallmacher muss man stärker reagieren, es gilt, einen chaotischen Mob zu koordinieren. Der Spieler kann Steine werfen, friedlich bleiben oder sympathisierende Journalisten einsetzen, um Polizeigewalt zu verhindern. Die Sicherheitskräfte gehen strategischer vor. Wasserkanonen und Tränengas stehen ihnen zur Verfügung, für den Notfall gibt es scharfe Munition. Jede Figur erhält individuelle Werte, die ihr Verhalten bestimmt und je nach Situation veränderbar macht.

Durch die offensive Darstellung der Kämpfe ergeben sich mehrere Fragen: Wird im »Riot-Simulator« ein platter Gewaltfetisch unkritisch inszeniert und in ein pseudopolitisches Konzept gepresst? Stellt das Spiel eine naive und gefährliche Revolutionsromantik dar, welche die oft langwierigen Prozesse von politischem Wandel verkürzt? Werden unbescholtene 14-Jährige nach dem Spielen massenhaft Polizeiautos anzünden? Vermutlich nicht, aber der Reihe nach.

Auf den ersten Blick mag der »Riot-Simulator« gewaltverherrlichend wirken, doch ist die explizite Gewaltdarstellung neben einer Mehrzahl an friedfertigen Angeboten längst normaler Bestandteil der kommerziell erfolgreichen Computerspielwelt. Bedeutend sind die Fragen nach der Perspektive, ob Gewalt zur Erreichung der Spielziele obligatorisch ist, ob diese belohnt wird und wie die Spielfiguren auf diese reagieren. Im »Riot-Simulator« gibt es nach dem Abschluss eines Kampfes sowohl eine »militärische« als auch eine »politische« Bilanz. So können Demonstranten wie Polizisten mit einem harten Vorgehen zwar die Gegenseite schnell vertreiben und doch die Gunst der Öffentlichkeit dabei verlieren - vorausgesetzt, sie werden von Kameras beobachtet.

Im Gegensatz zu 3D-Shootern wird die visualisierte Gewalt des »Riot-Simulators« darüber hinaus durch die simple Pixelgrafik abstrahiert und abgeschwächt. In der Regel können Computerspieler aber auch zwischen Simulation und Realität unterscheiden. Unzählige sich widersprechende Studien wurden bereits zum Zusammenhang zwischen fiktiven Spielinhalten und realem aggressiven Verhalten erstellt, doch bis heute konnte in der Mehrheit kein kausaler Zusammenhang nachgewiesen werden. Die Forschungsergebnisse zeigen eher die Bedeutung der Sozialisation und der Eigenschaften des Individuums auf. Gewaltvolle Medieninhalte können so unter Umständen vorhandene Aggressionen kurzfristig verstärken; ein Auslösen solcher Gefühle wie auch eine langanhaltende Wirkung ist jedoch unwahrscheinlich. Für viele Zocker ist fiktive Brutalität schlicht ein alltägliches Unterhaltungsangebot.

Der Unterschied des »Riot-Simulators« zu den Mainstreamspielen ist, dass die Gewalt beider Seiten mit einer politischen Positionierung verbunden ist. Sie spiegelt die Weltsicht des kleinen, sich als links verstehenden Programmiererteams wider. Der Simulator bricht so mit den im Spielbetrieb ungeschriebenen Tabus, aktuelle politische Bewegungen als handelnde Akteure auf die Bühne zu holen und Gewalt als Mittel zum Erreichen ihrer Ziele zu akzeptieren.

Gerade dadurch ist die Sorge verständlich, dass durch fiktive Bilder von Ausschreitungen eine linke Politik allgemein diskreditiert wird. Das Spiel spiegelt hierbei aber auch nur einen Konflikt, der innerhalb der gesellschaftlichen Linken zur Anwendung von Protestmethoden geführt wird. Die Macher des »Riot Simulators« erklären frei heraus, dass sie die weltweiten Ohnmachtserfahrungen angesichts politischer Missstände und staatlicher Repression wie auch die gefühlte Selbstermächtigung der Aktivisten auf den Straßen sichtbar machen wollen. Die Simulation habe dabei sogar einen aufklärenden Charakter: Spieler könnten sich über Konflikte informieren und die Dynamik von Protesten besser verstehen. In diesem Sinne handelt es sich bei dem Spiel gewiss um Revolutionsromantik, aber zumindest um eine reflektierte, die dazu steht - und den Nutzern auch die Möglichkeit einräumt, mal als Polizei einen Haufen Demonstranten zu verprügeln.

Sicher kann man dem »Riot-Simulator« vorwerfen, dass er politische Konflikte auf physische Auseinandersetzungen verengt und die Rolle von friedlichen Strategien oder Methoden des zivilen Ungehorsams herunterspielt. Auch besteht trotz Erklärungen die Gefahr, dass bei einer bunten Aneinanderreihung von globalen Krawallen die spezifischen Hintergründe und Widersprüche, unangenehme Begleiterscheinungen, die Zusammensetzung der Randalierer und sozio-ökonomischen Gründe wie Armut verblassen. Im schlechtesten Fall bleibt bei Spielern nur das Spektakel bestehen. Andererseits ist jedes Computerspiel eine verkürzte Simulation der Realität, die sich für bestimmte Erfolgsmechaniken entscheiden muss. Politische Maulwurfsarbeit und Organisierungsbemühungen sexy zu inszenieren, ist herausfordernd. Die Straßenschlacht ist dagegen ungeachtet aller politischer oder moralischer Debatten ein faktisches Phänomen, das im Zuge einer wachsenden globalen Instabilität sowie schwächelnder Gewerkschaften an Bedeutung zu gewinnen scheint.

Theoretisch würden mit den Mitteln des Generalstreiks, der Blockade von wirtschaftlicher Infrastruktur oder des »sozialen Streiks« Handlungsalternativen für die Unterdrückten bestehen. Es wäre wünschenswert, wenn ein Computerspiel auch diese Kampfmittel aufgreifen würde. Der »Riot-Simulator« hatte sich dagegen entschieden. Und doch weisen die Macher auf die Begrenztheit der Krawalle hin: »Es ist ein Kampf, in dem es keine wirklichen Gewinner gibt.« Das Spiel soll nach Angaben der Entwickler demnächst auf dem Markt erhältlich sein.

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