Der harte Kern - von einer Frau entdeckt

Universität Kopenhagen ehrt die dänische Seismologin Inge Lehmann

  • Andreas Knudsen, Kopenhagen
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Zentrum Kopenhagens liegt »Vor Frue Plads«, der »Platz unserer Frau«, zwischen dem historischen Universitätsgebäude und der Kirche, nach der er benannt ist. Der Platz wird seit langem von Büsten und Skulpturen bedeutender dänischer Wissenschaftler geschmückt. Doch hatte es bis jetzt keine Frau geschafft, hier geehrt zu werden. Erst 24 Jahre nach ihrem Tod wird Inge Lehmann diese Ehre zuteil.

Geboren 1888 in Kopenhagen, studierte Inge Lehmann ab 1907 Mathematik und Geodäsie, zwei Fächer, die von Männern dominiert wurden. 1925 erhielt sie eine Anstellung an der Universität. Ihre Aufgabe: den ersten Seismografen des Landes kontrollieren. Später wurde sie Leiterin des Geodätischen Institutes. Der Seismograf und das Institut waren ihr Leben. Außer Gartenarbeit zur Entspannung gab es nichts anderes für sie. Eine andere Liebe als die zur Wissenschaft fand sie nie. »Wenn sie wüssten, mit wie vielen untauglichen Männern ich konkurrieren musste - und verlor« ist das einzige bekannte Bonmot der Wissenschaftlerin und wurde von einem Neffen überliefert.

Der Durchbruch für Inge Lehmann kam 1936, als sie einen Artikel mit dem vielleicht kürzesten Titel in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlichte: P’. Der Buchstabe bezieht sich auf die Primärwellen, die durch Erdbeben ausgelöst werden gemeinsam mit den S- bzw. Sekundärwellen. Im Artikel argumentierte sie dafür, dass die seismischen P-Wellen auf ihrem Weg durch die Erde auf ein festes Hindernis stoßen müssten, von dem sie abprallen und umgelenkt werden. Sie wurde auf dieses Phänomen bereits 1929 aufmerksam, als sie den Kopenhagener Seismografen nach einem schweren Erdbeben in Neuseeland ablas. Die Werte stimmten nicht überein mit dem, was die damals anerkannte Theorie erwarten ließ. Als gründliche Wissenschaftlerin wollte Inge Lehmann erst ein größeres Datenmaterial zur Verfügung haben, bevor sie mit einer neuen Theorie an die Öffentlichkeit trat. Einen Beweis für ihre Theorie konnte sie zu dem Zeitpunkt nicht führen, aber sie legte sehr überzeugend dar, dass das Innere der Erde nicht ausschließlich flüssiges Magma sein konnte. Entweder musste die Erde einen harten Kern haben oder zumindest über eine harte Schicht tief im Inneren verfügen. Es dauerte 20 Jahre, bevor ihre Theorie vom harten Erdkern allgemeine Anerkennung fand. Inge Lehmann veröffentlichte bis 1953, als sie pensioniert wurde, 36 wissenschaftliche Artikel. Die P-Wellen wurden 1971 mathematisch mit Hilfe von Computerberechnungen nachgewiesen.

In Fachkreisen war Inge Lehmann zu diesem Zeitpunkt lange respektiert. Gerade Rentnerin geworden, erhielt sie eine Anfrage vom US-amerikanischen Lamont-Institut, ob sie hier nicht arbeiten und lehren wolle. Sie forschte und unterrichtete bis Ende der 1960er Jahre an verschiedenen Universitäten in den USA und Kanada. Sie war beteiligt an der Messung der seismischen Wellen, die durch Atomtests ausgelöst werden, um eine Methode zu finden, wie deren Stärke einzuschätzen ist. Darüber hinaus veröffentlichte sie weitere wissenschaftliche Arbeiten - die letzte, als sie 99 Jahre alt war. Erst während ihrer Nordamerika-Aufenthalte erhielt sie Auszeichnungen wie die Emil-Wiechert-Medaille der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft und Ehrendoktorgrade. Die L-(Lehmann)-Diskontinuität, die rund 220 Kilometer tief im Erdinneren auftritt, wurde nach ihr benannt. Inge Lehmann verstarb 1993. Ihren Kampfgeist hat sie wahrscheinlich vom Vater geerbt, der ebenfalls Wissenschaftler war.

Inge Lehmanns Name ist nur wenigen Einwohnern Dänemarks geläufig. Selbst der sehr belesene Ausbildungs- und Wissenschaftsminister Søren Pind, der ihre Skulptur enthüllte, räumte ein, dass er nicht gewusst habe, dass sie neben Niels Bohr die wichtigste dänische Wissenschaftlerin des 20. Jahrhunderts gewesen war.

Die dänische Kulturverwaltung verzeichnet 3100 Skulpturen im Lande. 30 davon sind Frauen gewidmet.

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