Eine zerrissene oder gar keine Nation?

Manfred Schünemann untersuchte Krisen, Konflikte und den Krieg in der Ukraine

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 4 Min.

Die im Zerfallsprozess der UdSSR 1991 entstandene Ukrainische Republik ist - nach Russland - der zweitgrößte Flächenstaat Europas. Zu seinen über 50 Millionen Einwohnern gehören nicht nur Ukrainer (73 Prozent) und Russen (20 Prozent), sondern 130 nationale Minderheiten wie Juden, Krimtataren, Moldauer, Belorussen, Polen, Bulgaren und Deutsche. Da Staatsbildungsversuche im Gefolge der russischen Revolution von 1917 bis 1923 in den ost- und westukrainischen Siedlungsgebieten Episoden blieben, fragt sich, ob ein ukrainischer Nationalstaat überhaupt eine Zukunft hat.

Der Historiker, Germanist und Diplomat a. D. Manfred Schünemann provoziert diese Frage, beantwortet sie aber nicht, wohl wissend, dass gesellschaftliche Entwicklungen offen sind. Der Ukraine-Kenner und Vizepräsident des in Berlin ansässigen Verbandes für internationale Politik und Völkerrecht untersucht die Besonderheiten der ukrainischen Identitätsbildung und kommt zum Befund: Die »Ukraina«, was übersetzt Grenzland bedeutet, präsentiert sich heute als ein sozial, kulturell und national äußerst zerrissenes Land. Infolge äußerer Einwirkungen und innerer Machtkämpfe der politischen und ökonomischen Eliten befindet sich das Land in einer Dauerkrise.

Schünemann legt offen, warum und wie diese im Februar 2014 durch den Staatsstreich einer prowestlichen Herrschaftsgruppe gegen den nach den Regeln der parlamentarischen Demokratie gewählten Staatspräsidenten Viktor Janukowitsch in einen Bürgerkrieg eskalierte, in dem bereits 10 000 Menschen starben. Dies sei eine Folge des nach dem Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts auf andere Art fortgesetzten offenen wie verdeckten Kampfes der USA, der Europäischen Union und der NATO um Ausdehnung ihres Einflusses bis weit an die Grenzen Russlands, aber auch der Gegenreaktion Russlands auf die geopolitischen Machtverschiebungen.

Die Spaltung der Ukraine führt Schünemann unter anderem auf jahrhundertelange Prägungen zurück. Auch wenn in fast allen Landesteilen ethnische Ukrainer dominieren, zeichne sich eine deutliche ethnisch-kulturelle, mentale Zweiteilung des Landes ab. Die russischstämmige Bevölkerung lebt vor allem in den industriellen Ballungszentren der östlichen und zentralen Landesteile sowie auf der Krim. Sie sind geistig-kulturell mit Russland und der russisch-orthodoxen Glaubensrichtung verbunden. Dagegen leben in den westlichen Gebieten fast ausschließlich ethnische Ukrainer, die durch ihre jahrhundertelange Zugehörigkeit zu Polen oder Österreich-Ungarn vom »christlich-abendländischen« Kulturkreis geprägt sind. Daraus erklären sich die Unterschiede in gesellschaftlichen Grundfragen und hinsichtlich der außenpolitischen Orientierung. Während in der Westukraine die Eigenstaatlichkeit als Abgrenzung von Russland und Hinwendung nach Westeuropa gesehen wird, stemmen sich die meisten russischen Bewohner der östlichen und südöstlichen Regionen gegen eine zu starke Abgrenzung und Trennung von Russland.

Es ist meines Erachtens fraglich, ob ein Nationalstaatskonsens in der Ukraine überhaupt erreichbar ist. Es scheint vielmehr noch immer zuzutreffen, was der Ukraine-Experte An-dreas Kappler schon 1992 bemerkte: Die unierten polonisierten Ruthenen Galiziens, die russifizierten Kleinrussen von Odessa und Donezk, die Ukrainer der Dnepr-Region und die Rusynen Transkarpatiens bilden keine geschlossene ukrainische Nation.

Schünemann macht die USA und die westlichen Länder hauptverantwortlich dafür, dass nach dem Jugoslawienkrieg von 1999 ein weiterer Krieg den europäischen Kontinent heimsuchte. Sie wollen - wie auch im Falle anderer sowjetischer Nachfolgestaaten - die Ukraine in ihren politischen, ökonomischen und militärischen Einflussbereich bringen und deren Reintegration in die Eurasische Wirtschaftszone verhindern.

Spezielle Kapitel widmet der Autor dem gesellschaftlichen Wandel und der außenpolitischen Strategie der Präsidialregimes von Leonid Krawtschuk, Leonid Kutschma, Wiktor Juschtschenko, Viktor Janukowitsch, Alexander Turtschinow sowie des Oligarchen Petro Poroschenko, aber auch den kürzeren Regierungszeiten von Julia Timoschenko und Arseni Jazenjuk. Sie alle gehörten durchweg zur einstigen Nomenklatura der KPdSU bzw. des Komsomol, des kommunistischen Jugendverbandes, der Ukrainischen Sowjetrepublik.

Schünemann sieht im Umsturzregime 2014 vorrangig prowestliche, nationalkonservative Kräfte am Werke. Tatsächlich müsste für jeden aufmerksamen Zeitgenossen unverkennbar gewesen sein, dass - ähnlich in anderen Staaten Osteuropas - rechtsnationale und völkisch-faschistische, rechtsextreme Parteien und Organisationen wie »Swoboda«, »Rechter Sektor« oder die sogenannten Freiwilligenbataillone einen beachtlichen Einfluss auf die fatale Entwicklung in der Ukraine genommen haben. Jene stehen in der »Traditionslinie« der seit den 1920er Jahren wirkenden ukrainischen faschistischen Bewegung und Nazikollaborateure (OUN, UPA). Sie werden ungeniert von den USA und der EU finanziell und politisch protegiert.

Der Autor stellt akribisch dar, wie der prowestliche rechte Staatsumsturz von 2014 zur Krimkrise und zum Donbass-Krieg führte. Letzterer ist inzwischen zu einem gefährlichen Frozen Conflict (eingefrorener Konflikt) mutiert, der Europas Frieden bedroht und nur durch einen Ausgleich bzw. Kompromiss globaler und regionaler Interessen zwischen den USA und Russland gelöst werden kann. Nachdem der Versuch, die NATO auf die Ukraine auszuweiten, 2008 - immerhin auch durch deutsches Veto - scheiterte, schwenkten die USA unter George W. Bush jun., Barack Obama und Donald Trump auf den Kurs ein, die Ukraine (ähnlich wie zuvor das Baltikum und Georgien) zu einem politischen Vasallen und wenigstens Militärstützpunkt gegen die atomare Großmacht Russland umzuwandeln.

Erfreulich ist, dass im Anhang des Buches von Schünemann sich Basisdaten über die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung, zur wirtschaftlichen Entwicklung, zum politischen System und zu allen jüngsten Volksentscheiden, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen finden, die man in anderen Büchern und in aktuellen Medienberichten vermisst.

Manfred Schünemann: Zerbricht die Ukraine? Krisen, Konflikte und Krieg seit der Unabhängigkeit. Ursachen und mögliche Folgen. Verlag am Park. 171 S., br., 14,99 €.

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