Wie weit ist es nach Lichtenhagen?

Kommende Woche jähren sich die rassistischen Ausschreitungen von 1992 in Rostock - was hat sich seither verändert?

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.

Als Mehmet Ata die Pressekonferenz einleitet, hat er erst einmal zu danken. Dem »Rat für Integration« zum Beispiel, der Träger des von ihm geleiteten »Mediendienstes Integration« ist. Aber auch der EU, aus deren Mitteln derselbe mitfinanziert wird. Und dann hat der frühere Integrationsfachjournalist der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« eine Bitte an die Presseleute: Man möge die ausliegenden »Evaluationsbögen« ausfüllen. Das helfe, »Veranstaltungsformate zu verbessern«.

Damit war die Hauptfrage, die sich durch die Veranstaltung anlässlich des 25. Jahrestages der rassistischen Massenausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen zog, im Grunde bereits beantwortet: Was hat sich in der Gesellschaft seither verändert hinsichtlich rassistischer Ausgrenzung und Gewalt? Vor einem Vierteljahrhundert gab es in der Bundesrepublik keine anerkannten Journalisten mit Vornamen wie Mehmet, schon gar nicht für Themen wie Integration. Es gab keine öffentlich geförderten Organisationen zur Förderung migrantischer Blickwinkel in den Medien. Es existierte in der öffentlichen Debatte nicht einmal das Wort »Rassismus«, das weithin als linker Kampfbegriff galt. Und Veranstaltungen, die jene Hassnächte vor der damaligen Asylbewerber-Aufnahmestelle sowie dem danebenliegenden Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter thematisierten, fanden kurz nach den Ereignissen nicht in offiziösen Hauptstadträumen statt - sondern meist in kleinen linken Zentren, die aus Angst vor Angriffen selbst organisierte Wachen vor die Türe stellten.

Wäre also »Lichtenhagen« heute noch oder wieder möglich? Nicht in Rostock, sagt Wolfgang Richter, der seinerzeit als städtischer Ausländerbeauftragter im angegriffenen »Sonnenblumenhaus« ausharrte. Dagegen stehe vor Ort allein schon der Polizeichef Michael Ebert, der seinerzeit mit viel zu wenigen und schlecht ausgerüsteten Beamten dem Krawallmob gegengestellt wurde und nach eigener Aussage um sein Leben fürchtete. Ein derart manifestes Politikversagen wie vor 25 Jahren, als Stadt und Land sich die Verantwortung zuschoben, während die Zustände vor der Aufnahmestelle eskalierten, kann er sich heute auch nicht mehr vorstellen. Vor allem aber habe sich die Grundstimmung verändert. Seinerzeit gab die lokale Tageszeitung den Auftakt zu den Krawallen, als sie eine anonyme Drohung, vor dem Haus »aufräumen« zu wollen, unkommentiert auf die Titelseite hob. Heute würde dies erstens kein Journalist mehr tun. Und zweitens würden, ist sich Richter angesichts der Flüchtlingshilfe der vergangenen Jahre sicher, solche Appelle »Tausende« Gegendemonstranten auf den Plan rufen.

Auch Angebote wie die »Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus«, die derzeit verstärkt die Wahlkämpfer von Parteien im Umgang mit Rechtsradikalen schult, waren zu Anfang der 90er Jahre unbekannt. Dennoch, warnt die Mitgründerin Bianca Klose, gebe es keinen Grund für eine Entwarnung. Sie erinnerte daran, dass es laut Bundeskriminalamt im Durchschnitt täglich einen Angriff auf eine Flüchtlingsunterkunft gibt. Auch hätten die Vorfälle im sächsischen Heidenau vor fast genau zwei Jahren gezeigt, dass es unter Umständen durchaus zu rassistischen Krawallen mit beträchtlicher Eigendynamik kommen kann.

Dies unterfüttert die Politologin Beate Küpper: Es habe sich 2015 und 2016 eine »überraschend positive« Grundstimmung gegenüber Flüchtlingen gezeigt, die sich entgegen vieler Annahmen als relativ stabil erweise. Doch zugleich gebe es eine »Polarisierung der Einstellungen«: In einer »nicht ganz kleinen, aggressiven Minderheit« würden heute wieder ganz unverblümt rassistische Positionen artikuliert, denen man vor einigen Jahren so kaum noch begegnet sei. Und um diese neu konsolidierten harten Kerne bilde sich abermals eine Mitläuferschaft: Nicht von ungefähr würden Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte oft von Personen verübt, die noch nicht als Radikale aufgefallen seien.

Der Schoß ist also fruchtbar noch. Entgegenwirken lässt sich dem, wie Mai-Phuong Kollath, die Sprecherin des Netzwerks der Migrantenorganisationen im Nordosten, sagte, durch eine »Umkehr der Blickrichtung«: Die Stimme der Betroffenen müsse hörbar werden. Auch in Rostock sei der Sommer 1992 noch immer nicht Teil des städtischen Gedächtnisses.

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