Sinophilie ist keine Syphilis

Undine Radzeviciute: Frauen in Absurdistan

  • Friedemann Kluge
  • Lesedauer: 2 Min.

Wie die reale Autorin ihre erdachte Autorin charakterisiert, das ist für dieses Buch Programm: »Schascha hatte ein Talent, nur die absurdesten Ereignisse des Lebens wahrzunehmen, ... und sie selbst pflegte zu sagen, das könne pathologisch sein.« Schascha ist eine der beiden Töchter des Hauses, die mit der Mutter, einer Verfasserin erotischer Krimis mit gelegentlichen Fernsehauftritten, und der liebenswert dementen Großmutter zusammenleben. Es wird nicht ganz klar, wo die Geschichte der vier Frauen spielt, wo sie leben. Nennen wir das Land einfach Absurdistan.

In der Nachbarschaft der Frauen befindet sich jedenfalls eine chinesische Botschaft, was zumindest bei zweien von ihnen auf jeweils ganz eigene Weise zu Symptomen der Sinophilie führt. »Sinophilie, das ist nicht Syphilis«, stellt Autorin Schascha dazu weise fest.

Oma Amigorena beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Zählen der Chinesen, die ihr Tag für Tag vor die Augen kommen. Tochter Schascha schreibt gleichzeitig an der Geschichte des Jesuitenpaters Giuseppe Castiglione, den es tatsächlich gab und der sich im 18. Jahrhundert am Hof dreier chinesischer Kaiser als Maler und Architekt einen Namen gemacht hatte und seine eigentliche Missionsaufgabe wörtlich nahm: Er gab sie auf. »Manchmal lebte sich Schascha so sehr in die Beschreibung des Lebens in China ein, dass sie sogar vergaß, welcher Welt sie in Wirklichkeit angehörte.«

Die Geschichte Castigliones führt schließlich in abenteuerlichen Gedankensprüngen über chinesische Malerei und Architektur im Allgemeinen und über das architektonisch nicht korrekte Chinesische Haus im Park von Sanssouci im Besonderen bis hin zum Preußenkönig Friedrich II. und Voltaire.

Die vier Frauen führen eine Art kriegerisches Familienleben, definiert als »ein ständiges Zusammensein mit denselben Menschen. Ein Dasein, das man meist nicht ertragen kann ...« Und: »Heutzutage können nur diejenigen in Familien leben, die mit allem einverstanden sind.« Was auf die vier Frauen wahrlich nicht zutrifft.

Drei der Frauen kommen der Geschichte nach und nach abhanden: Oma Amigorena stirbt, Mama Nora verliebt sich in einen berühmten Fotografen und wandert mit ihm nach Tasmanien oder Neuseeland oder Papua-Neuguinea aus. Tochter Miki kommt in Ägypten bei kriegerischen Auseinandersetzungen ums Leben. Nur die schreibende Schascha beendet das Buch und ihre Castiglione-Geschichte allein. Allerdings am Boden eines ausgedienten Fahrstuhlschachtes, in den sie zuvor hineingestürzt war.

Trotz solcher Dramatik: Die intelligente Verknüpfung der komischsten Absonderlichkeiten macht das Buch zu einer recht vergnüglichen Lektüre.

Undinė Radzevičiūtė: Fische und Drachen. Roman. Aus dem Litauischen von Cornelius Hell. Residenz Verlag. 398 S., geb., 24 €.

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