»Wir haben das Undenkbare erreicht«

Jairo Rivera, ziviler Repräsentant der FARC-Guerilla, über die Schwierigkeiten des Friedensprozesses in Kolumbien

  • Madlen Haarbach
  • Lesedauer: 4 Min.

In den vergangenen Monaten haben Sie als Sprecher der Initiative »Voces de Paz« (Stimmen des Friedens) die kolumbianische FARC-Guerilla politisch repräsentiert. Wie ist diese Initiative entstanden?
Während der Friedensverhandlungen in Havanna haben die Vertreter der FARC und der kolumbianischen Regierung eine Art politische Übergangslösung vereinbart: Während die Guerilla noch bewaffnet war und formal als terroristische Vereinigung galt, durfte sie schon aus juristischen Gründen nicht politisch aktiv werden. »Voces de Paz« ist in diesem Zusammenhang als eine Verbindung zwischen den FARC und der Zivilgesellschaft entstanden. Wir sind sechs Repräsentanten, jeweils drei im Kongress und drei im Senat. Dabei ist unsere Aufgabe, die Umsetzung der Bestimmungen zu beobachten und zu überwachen - wir dürfen beraten, aber sind nicht stimmberechtigt. Außerdem unterstützen wir die FARC bei ihrem Übergang ins politische Leben.

Wie wird dieser Übergang aussehen?
Ende August bestimmen die FARC bei ihrem letzten Kongress die Ausrichtung der neuen Partei, die Leitlinien, die Strategien. Außerdem werden die politischen Repräsentanten gewählt (Anm. d. Red: In den kommenden acht Jahren stehen der neuen Partei automatisch jeweils fünf Sitze im Senat und Kongress zu, unabhängig von den Wahlergebnissen). Ab diesem Zeitpunkt hat die neue Partei alle politischen Rechte.

Nach dem Referendum, bei dem eine dünne Mehrheit der Kolumbianer gegen das Abkommen stimmte, unterzeichneten Präsident Juan Manuel Santos und der FARC-Anführer Rodrigo Londoño im November vergangenen Jahres eine überarbeitete Version. Wie haben Sie den Prozess seit Inkrafttreten der Bestimmungen erlebt?
Die Umsetzung des Friedensabkommens war leider von Anfang an von vielen Verzögerungen und einer starken Unsicherheit geprägt. Parallel wird der Friedensprozess permanent von der rechten Opposition unter Federführung des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe torpediert.

Welche Schwierigkeiten gab es?
Das Abkommen sah vor, dass sich die FARC-Kämpfer ab Anfang Dezember über sechs Monate hinweg in Übergangszonen auf ihr ziviles Leben vorbereiten. Die Guerilla erfüllte ihren Teil der Abmachungen und sammelte ihre Kämpfer in den geplanten Gebieten. Doch keine der Siedlungen war fertig, als die Kämpfer eintrafen. Selbst heute, fast acht Monate später, ist nicht einmal die Hälfte der Siedlungen fertiggestellt.

Ein weiteres schwerwiegendes Problem ist die Umsetzung des Amnestiegesetzes, das bereits Ende vergangenen Jahres verabschiedet wurde: Viele ehemaligen Rebellen befinden sich bis heute in Haft, sie wurden bislang weder freigelassen noch amnestiert.

Unsere größte Sorge sind jedoch die paramilitärischen Gruppen. In den vergangenen zwei Jahren, in denen nominell »Frieden« herrschte, wurden über 160 Menschenrechtsaktivisten ermordet. Seit Anfang des Jahres wurden mindestens acht ehemalige FARC-Kämpfer ermordet, die ihre Waffen bereits abgegeben hatten.

Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Herausforderungen, vor denen der Friedensprozess steht?
Wir stehen gerade vor drei Herausforderungen: Erstens müssen das Abkommen und die ehemaligen Rebellen juristisch abgesichert werden, dazu gehört eine rasche Ratifizierung der fehlenden Reformen. Aktuell fehlen noch etwa zehn Reformen, darunter auch so zentrale wie das Gesetz zur Landrückgabe und das Gesetz für die Übergangsjustiz. Das Landgesetz ist wesentlich, da es die Ursachen des Konfliktes betrifft - die Landverteilung und die politische Exklusion weiter Bevölkerungsteile; letzteres regelt den legalen Status der ehemaligen Kämpfer und ist dadurch eigentlich unverzichtbar.

Zweitens, die körperliche Sicherheit der ehemaligen Rebellen muss garantiert werden. Jeden Tag werden Menschen bedroht und ermordet. Die Guerilla hat ihre Waffen abgegeben und kann nicht auf ihre alten Verteidigungsmechanismen zurückgreifen. Dadurch entsteht eine große Unsicherheit, die durch die fehlende ökonomische Absicherung, den dritten Punkt, noch verschärft wird. Die Mitglieder der FARC müssen schnellstmöglich in die Zivilgesellschaft integriert werden - gerade erhalten sie nicht einmal den vereinbarten monatlichen Geldbetrag, der noch unter dem Mindestlohn liegt. Diese Unsicherheiten verschärfen das Risiko, dass Teile der FARC sich nach alternativen Wegen umschauen und sich etwa anderen illegalen bewaffneten Gruppierungen anschließen.

Was ziehen Sie nach den vergangenen Monaten für ein Fazit?
Der Friedensprozess war extrem kompliziert und wird auch weiterhin kompliziert bleiben. Allerdings habe ich den Eindruck, dass uns Kolumbianern noch gar nicht so richtig bewusst ist, welche Situation wir erleben: Wir haben gerade die Möglichkeit, ein Kapitel unserer Geschichte zu beenden, das schon vor vielen Jahren beendet hätte werden müssen. Wir haben etwas erreicht, das vor wenigen Jahren noch nicht einmal denkbar war. Die ehemaligen FARC-Rebellen haben heute die Möglichkeit, in Schulen und Universitäten zu gehen und ihre Ideen mit dem Wort zu verteidigen und dem Land ihre Version der Geschichte zu erklären. Und ich hoffe, dass diese Erfahrungen unser Land zum Positiven verändern werden, auch wenn es einige Zeit in Anspruch nimmt.

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