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Gesegnet mit materialistischem Geist

Zu Besuch im Plechanow-Haus von St. Petersburg. Von Karlen Vesper

  • Lesedauer: 5 Min.

Einem russischen Philosophen verdanke ich mein erstes »Summa cum laude« an der Humboldt-Universität. Beauftragt von unserem hochverehrten Professor für russische und sowjetische Geschichte, über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte zu sinnieren, vertiefte ich mich in die 1898 hierüber erschienene Schrift von Georgi Plechanow. Diesen Lektüretipp hatte mir Günter Rosenfeld - mit dem wir übrigens entgegen den Gepflogenheiten in der DDR selbst in den 1980er Jahren offen über das geheime Zusatzprotokoll zum sogenannten Hitler-Stalin-Pakt und Katyn diskutieren konnten - noch mitgegeben.

»Die persönlichen Besonderheiten der führenden Personen bestimmen das individuelle Gepräge der historischen Ereignisse und das Element des Zufälligen«, las ich. Sodann: »Die zufälligen Erscheinungen und die persönlichen Besonderheiten der berühmten Männer springen bedeutend mehr ins Auge als die tiefliegenden allgemeinen Ursachen.« Oder: »Man kann heute die menschliche Natur schon nicht mehr als die letzte und allgemeinste Ursache der historischen Bewegung betrachten: Wenn die menschliche Natur unveränderlich ist, so kann sie den höchst veränderlichen Gang der Geschichte nicht erklären; wenn sie sich aber verändert, so werden offenbar ihre Veränderungen selbst durch die historische Bewegung bedingt. Heute muß als letzte und allgemeinste Ursache der geschichtlichen Bewegung der Menschheit die Entwicklung der Produktivkräfte anerkannt werden, durch die die aufeinanderfolgenden Veränderungen in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen bedingt werden.« Alles kluge Gedanken, aus denen ich - einige große Männer und Frauen exemplarisch nennend - eine Seminararbeit strickte.

Ohne die Rolle der Persönlichkeit zu minimieren, hat Plechanow wider die elitäre wie patriarchalische Behauptung, »Männer machen die Geschichte« (Heinrich von Treitschke) polemisiert und auch auf die gestaltende Macht sich ihrer Kraft bewusster Volksmassen verwiesen.

Das Plechanow-Haus in St. Petersburg ist ein unscheinbares, in einer Seitenstraße gelegen, nicht weit entfernt von der imposanten Troizky-Kathedrale, deren blaue, mit goldenen Sonnen übersäte Kuppel die Häuserzeilen weit überragt. Über eine schmale Treppe gelangen wir durch einen spärlich von nur einer Glühbirne beleuchteten Flur in den lichtüberfluteten Lesesaal. Sonne satt dringt durch die Fenster zum Hinterhof. Tatjana Filimonova, seit 1987 Leiterin des Plechnow-Archivs, wartet geduldig, bis sich alle Besucher am schweren ovalen Holztisch platziert haben. Das dauert, denn die Gäste entdecken in einer Vitrine Plechanows Pfeife und seine Totenmaske sowie bibliophile Schriften, die auch erst einmal beäugt werden wollen. Zudem liegen über den Tisch verstreut aktuelle Ausgaben diverser russischer Zeitungen, darunter die »Prawda«, nicht minder interessant.

Als endlich Ruhe eintritt, setzt die Hausherrin zur Rede an. Georgi Plechanow sei ein bedeutender Theoretiker des 19. Jahrhunderts gewesen, lässt die Historikerin, Jahrgang 1946, wissen, denn sie weiß nicht, wie viel Kenntnis sie bei ihren deutschen Zuhörern voraussetzen kann. Spätere Nachfragen lassen erkennen, dass deren Wissen nicht gering, jedoch teils noch von einstigem »realsozialistischen« Verdikt geprägt ist. Das sich schon und selbst in der Trauerrede des einstigen Mitstreiters Anatoli Lunatscharski zum Tode des Wegbereiters des Marxismus in Russland zeigte: »Von Plechanow muss begraben werden, was an ihm sterblich, eine Frucht der Schwäche und des Alters war. Wir werden das von ihm in seiner Blüte geschaffene Unsterbliche bewahren. So ehren wir den Helden revolutionären Geistes, ungeachtet dessen, dass er in den letzten Jahren vor seinem Tode vom richtigen Weg abkam.« Tatjana Filimonova erläutert die Hintergründe. Obwohl auch Plechanow die Revolution in Russland sehnlichst herbeigesehnt und ihr publizistisch den Weg bereitet hatte, erschien ihm der Oktoberaufstand 1917 verfrüht, worüber er sich mit Lenin entzweite. Der Sozialdemokrat beharrte auf die Einbeziehung breitester Volksmassen, von Arbeitern, Bauern und Intellektuellen bis hin zur Handelsbourgeoisie. Weitere Streitfragen waren die Koalitionsregierung und die Konstituierende Versammlung. Als Tatjana Filimonova anmerkt, im Trauerzug der Hunderttausenden, die dem am 30. Mai 1918 verstorbenen Plechanow das letzte Geleit gaben, seien alle politischen Strömungen vertreten gewesen außer den Bolschewiki, sind die Besucher überrascht. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten, zu denen man sich wie auch immer positionieren mag, hätte allein der Anstand geboten, dem alten großen Mann die letzte Ehre zu erweisen.

Die Direktorin versucht die Empörung mit dem Hinweis zu beschwichtigen, dass Plechanow in seinen letzten Lebensjahren auch in der Sozialdemokratie nicht wohl gelitten war und Lenin, als er die Neue Ökonomische Politik (NÖP) konzipierte, zu einer neuen Einschätzung der Leistungen seines einstigen Lehrers und letztlichen Kritikers kam. Der Führer der Bolschewiki habe sich zudem schon 1918 für die Sammlung, Bewahrung, Publizierung von Plechanows Erbe und der Einrichtung einer entsprechenden Institution eingesetzt. Diese konnte jedoch erst am 10. Todestag von Plechanow eröffnet werden, da sich die schon vom Rat der Volkskommissare begonnenen Verhandlungen mit der später in die USA emigrierten Familie über dessen Nachlass als sehr schwierig erwiesen.

Das Archiv des Plechanow-Hauses beherbergt 22 000 Publikationen in 80 Sprachen und über 400 000 Dokumente, darunter den regen Briefwechsel mit Protagonisten der I. und II. Internationale, so mit Karl Marx, Friedrich Engels, Paul Lafargue (Marxens Schwiegersohn), Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Eduard Bernstein. Tatjana Filimonova lädt zum Rundgang durch »ihr« Haus. Die Räume, die Plechanow mit seiner Frau nach der Rückkehr aus dem Schweizer Exil bewohnte, wirken bescheiden. Der Kachelofen und das alte Mobiliar lösen Verzückung aus. Plechanows Arbeitszimmer, heute das Büro von Tatjana Filimonova, ist so winzig, dass maximal drei Personen eintreten können. Auf einem Pult steht Plechanows Schreibmaschine, eine Underwood. An den Wänden hängen historische Aufnahmen sowie jüngere Fotos, die Tatjana Filimonova mit dem Enkel und den Urenkeln des Philosophen zeigen.

Zum 100. Todestag von Plechanow im kommenden Jahr hat man sich viel vorgenommen. Man will ihn mit dem 200. Geburtstag des deutschen Philosophen aus Trier verknüpfen. Geplant ist u. a. eine internationale Tagung unter dem Motto »Marx, Marxismus, Marxismen«. Tatjana Filimonova hofft, dass dann vielleicht auch das nicht mehr wie in Sowjetzeiten staatliche Förderung erhaltende, sondern auf Spenden angewiesene Plechanow-Haus größere Aufmerksamkeit erfährt und kein Geheimtipp unter Wissenschaftlern in aller Welt mehr ist. 400 Forscher nutzen jährlich den hiesigen Fundus.

Anschließend suchen wir deutschen Russlandfahrer noch die nahe Dreifaltigkeitskathedrale auf, erleben einen orthodoxen Gottesdienst und werden vom Popen gleich den Gläubigen mit Weihrauch und Gesang gesegnet. »Schaden kann’s nicht«, flüstert mir meine Begleiterin zu. Ich bin etwas irritiert, haben wir doch wenige Minuten zuvor den materialistischen Geist Plechanows empfangen.

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