nd-aktuell.de / 21.08.2017 / Politik / Seite 18

Die Arbeiter haben heute mehr zu verlieren als ihre Ketten

Der Ökonom und Statistiker Thomas Kuczynski über das Gefährliche an Marx, den Dreck in Revolutionszeiten und ökologische Kapitalisten

Gabriele Oertel und Tom Strohschneider

Nachdem Helmut Kohl gestorben ist, gab es Forderungen, Karl-Marx-Plätze in Helmut-Kohl- Plätze umzubenennen. Was sagt ein ausgewiesener Marx-Kenner dazu?
Ich finde es am besten, wie es in England oder in den USA geregelt ist. Da werden keine Straßen nach Personen benannt.

Abgesehen von einer ideologischen Offensichtlichkeit - es war ja die Junge Union, die diesen Vorschlag gemacht - und abgesehen von dem Unsinn, Straßen nach Leuten zu benennen, von denen man weiß, dass bei der nächsten historischen Neubewertung wiederum eine Unbenennung ins Haus steht: Warum reiben sich die Menschen immer wieder an Marx?
Weil er offenbar immer noch aktuell ist und von verschiedensten als höchst gefährlich betrachtet wird.

Was ist das Gefährliche an Marx?
Eine Revolution. Das war die Basis von allem, was er geschrieben und gemacht hat. Es wird zwar heute immerfort von vielerlei Revolutionen geredet, aber im politischen Sinne redet man doch lieber von Transformation.

Sie glauben, dass die Junge Union Angst vor der Revolution hat und Marx als Gefahr sehen?
Sicher kann man das nicht generalisieren. Aber ich glaube schon, dass Marxens Gedankengut nach wie vor höchst gefährlich für diese Gesellschaft ist - auch wenn er seit Ende des vergangenen Jahrtausends als der große Prophet der Globalisierung durch alle Medien wandert und es inzwischen keinen ernst zu nehmenden Wissenschaftler gibt, der nicht anerkennt, dass Marx eine bedeutende Persönlichkeit gewesen ist.

Wir haben ja in diesem Jahr noch das 100-jährige Jubiläum im Oktober. Das war eine Revolution, wenn man auch viel darüber diskutieren kann. Was hätte Marx zum Oktober 1917 in Russland gesagt?
Ich bin nicht Marx, aber ich könnte mir vorstellen, dass er die erst einmal unterstützend begrüßt hätte. Sein Verhältnis zu Russland war ja durchaus Wandlungen unterworfen. Zunächst war es für ihn der Ort des Zarismus. Aber in den 70er/80er Jahren des 19. Jahrhunderts – das kann man im Vorwort zur russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifests lesen - hat er zusammen mit Engels ganz klar der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die russische Revolution ein Signal für die Länder im Westen sein könnte. Also genau das, was 35 Jahre später Lenin so stark herbei sehnte. Der hat sich ja nicht eingebildet, dass die russische Revolution das allein Seligmachende ist. Im Gegenteil, er hat bis zum Schluss darauf gehofft, dass sich in Westeuropa etwas bewegt. Und ganz klar gesagt: Wenn es im Westen zur Revolution kommt, dann wird Russland das, was es vorher war, ein rückständiges Land – kein Modell, sondern wieder lernend von Westeuropa.

Dazu ist es nicht gekommen.
All das ist leider nicht eingetreten. Ich zitiere da immer ganz gerne Rosa Luxemburg, die am 24. November 1917 an Luise Kautsky schrieb, dass die Bolschewiki in diesem Hexensabbat wahrscheinlich verbluten werden, weil die hundsjämmerlichen Feiglinge der westlichen Sozialdemokratie eben nicht zur Revolution kommen. Ja, es wurde zwar ein anderer Hexensabbat, in dem die Bolschewiki gescheitert sind, er war auch etwas später - aber es ist schon eine ganz tragische Angelegenheit, das Russland mit seiner Revolution faktisch alleine geblieben ist.

Was hätte Marx zu den Fehlern der russischen Revolution gesagt? Zu Leuten wie Stalin, zum politisch-ökonomischen Konzept?
Über Fehler hätte er wahrscheinlich sehr wenig gesagt, weil in jeder Revolution Fehler gemacht werden. Marx hat sich auch sehr zurückhaltend zur Pariser Kommune geäußert. Er war kein Besserwisser, kein Kritikaster. Stalin ist sicherlich eine völlig andere Geschichte. Aber die Zeit bis dahin, hätte er sehr nüchtern betrachtet. Dass einem zu Revolutionszeiten mancher Dreck um die Ohren fliegt oder man mit Dreck beworfen wird, gehörte für ihn dazu. Da war er sehr realistisch.

Die Leute, die sich heute die Helmut-Kohl-Straßen wünschen, vertreten eine bestimmte Stoßrichtung der Ablehnung von Marx, die in seinem Werk die Pointe der eingeschränkten Freiheitsrechte und der tatsächlich später stattgefundenen Verbrechen vorweggenommen sehen. Wie viel hatten denn die russischen Revolutionäre noch von Marx im Kopf? Waren die so marxistisch, wie sie sich selber dachten?
Da waren sich Lenin und Gramsci sehr einig, obwohl sie nie darüber geredet haben: Die Revolution in Russland ist nicht dem »marxistischen Modell« gefolgt ist. Es ist übrigens von Gramsci als ein großes Glück betrachtet worden, dass die sich nicht auf irgendwelche Katechismen bewegt, sondern die Revolution gemacht haben. Ähnlich kann man auch bei Lenin lesen, dass die Dinge anders gelaufen sind als Marx und Engels es sich vorgestellt haben. Ja, so what? Jesus Christus war auch nicht an der Inquisition Schuld.

Sie haben in einem Interview vor ein paar Jahren einmal gesagt, dass zwischen Marx und Marxismus Welten liegen. Ist Marx besser als der Marxismus oder ist es umgekehrt?
Jeder Ismus ist eine Ideologie. Ich sage immer, dass mein Denken auf Marx basiert - aber ich würde nie sagen, dass ich Marxist bin. Marx hat das auch abgelehnt, er mochte auch keine ideologischen Etikettierungen. Klar, es gab sehr gute Leute, die auf Marx aufgebaut haben und dann traditionell als Marxisten bezeichnet wurden. Und natürlich sind wir in vielen Punkten über Marx hinaus, heute 120, 150 Jahre später weiß man zum Glück manches besser als vor 150 Jahren. Doch den Begriff Marxismus halte ich nicht für sehr vernünftig.

Wie lange wissen Sie das schon? Haben Sie sich etwa zu DDR-Zeiten geschüttelt, wenn Sie als Marxist bezeichnet wurdest?
Nein, ich würde mich auch heute nicht schütteln als Marxist bezeichnet zu werden. Man muss ja nicht alles, was man für falsch hält, mit Ekel betrachten. Natürlich ist 1989/90 ein bedeutender Einschnitt gewesen und ich will nicht ausschließen, dass mir das erst mit der sogenannten Wende ins Bewusstsein getreten ist - obwohl ich mich sehr gut erinnere, dass die große Differenz zwischen Wissenschaft und Politik mir schon früher in den 80er Jahren deutlich geworden ist.

Inwiefern?
Da ist zum Beispiel etwas vom Standpunkt des Marxismus völlig Unwissenschaftliches hervorragend massenwirksam in der Arbeiterbewegung verankert: Der Ruf »gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, gilt ja bis heute. Ich habe immer gesagt, es tauge zu keiner Schlagzeile, wenn man das marxistisch formuliert hätte: gleicher Lohn für gleiche Arbeitskraft. Diese Differenz von Wissenschaft und Politik, vergleichbar der von Naturwissenschaft und Technik, wird es immer geben und ist ein Punkt, der bei diesen Ismen eine große Rolle spielt. Marx hat nie eine unpolitische Wissenschaft gemacht und er hat sicherlich auch manches Politische geschrieben, wo er die Wissenschaft hintenan gestellt hat. Aber ich glaube nicht, dass er seine Wissenschaft im Dienste einer Politik betrieben hat. Dafür sah er auch keinen Grund. Er hat sie natürlich im Interesse der Klasse geschrieben, der Arbeiterklasse. Das Kapital ist zwar sozusagen die Bibel des Kommunismus, wie das zuweilen schon zu seinen Lebzeiten gesagt wurde. Aber im Unterschied zur Bibel ist es sehr viel weniger gelesen worden.

Heute wird es wieder relativ viel gelesen und viele sind erstaunt über Schlagzeilen, wie »Hatte Marx doch Recht?« Es gibt eine mediale Renaissance, nach der in den 90er Jahren gibt es jetzt eine neue. Überrascht Sie das? Oder langweilt es Sie? Oder stört Sie manchmal die Art, wie da über Marx geschrieben wird?
K: Das ist sehr unterschiedlich. Ich habe jetzt ein Büchlein gelesen, das ist eine Sammlung von einem Dutzend Essays, herausgegeben von Greffrath, und die sind teilweise einfach amüsant und lebendig geschrieben. Natürlich nicht alles, aber darum geht es auch gar nicht. Diese Texte regen zum Weiterdenken an. Und zwar nicht nur Leute, die gar keine Ahnung haben, sondern auch ich hab sie durchaus mit Interesse und gern gelesen. Freilich gibt es unendlich viel Quatsch, der erscheint. Das ist aber überhaupt nichts Absonderliches in dieser medialen Gesellschaft - und man muss ja auch nicht alles lesen.

Ist dieser Marx-Hype womöglich nur eine äußerlich Modeerscheinung und gar kein echtes Interesse? Ist Marx in und hip, weil gerade ein Jahrestag ins Haus steht?
Ich vermute auch, dass das Rauschen im Blätterwald 2019 zu Ende ist, wenn der 200. Geburtstag von Karl Marx absolviert ist. Danach wird das alles sehr viel ruhiger sein – dennoch hoffe ich, dass Marx weiter gelesen wird, vielleicht sogar mehr als jetzt zu diesen Hype-Zeiten, wo man ja viel mehr über Marx als von Marx liest.

Es gibt genug Leute, die in diesen fürchterlichen Zeiten tatsächlich gucken, ob es Konzepte gibt, die Welt zu retten.
Das ist auch gut so. Sich mit Marx zu konsultieren, kann nie falsch sein. Solange man nicht der Idee anhängt, dass man ihn nur eins zu eins umsetzen muss und schon wird alles gut. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass die überwiegende Masse der Leute, die sich wirklich politisch für Marx interessieren, so denken. Sie sehen wie ich vor allem den ungeheuren Anreger, immer wieder.

Viel wird gegenwärtig davon geredet, dass der Kapitalismus in der Krise ist. Man kann bei Marx lernen, dass er eigentlich immer in der Krise ist, die Krise nur manchmal nicht ganz so schlimm aussieht. Jedenfalls wird heute vor allem der große Krisentheoretiker Marx beschworen, selbst von Hans-Werner Sinn. Sie aber behaupten, Marx sei kein Krisentheoretiker. Aus Prinzip?
Ich bleibe bei meiner Auffassung – und das nicht nur, weil Sinn anderer Auffassung ist. Marx und Engels sind von ihrem Freund Lupos, Wilhelm Wolf, immer wieder gehänselt worden wegen der Vielzahl ihrer Krisenvoraussagen, die alle nicht eingetroffen sind. Natürlich kann man bei Marx in wunderbaren Passagen eine Menge zum Mechanismus der Wirtschaftskrisen finden, aber keine systematische Aus- und Aufarbeitung. Das hatte er natürlich in seinem 6-Bücher-Plan vom Kapital vor, aber es ist Stückwerk geblieben. Und auch wenn es in den letzten 100 Jahren sehr bedeutende Konjunktur- bzw. Krisenanalytiker gab, eine geschlossene Theorie haben wir bis heute nicht.

Wie tief ist der Kapitalismus heute in der Krise?
Er ist immer noch in der Krise, die 1973 angefangen hat. In der Krise des Fordismus, so bezeichne ich das jedenfalls, hat sich inzwischen zwar vieles verändert, aber im Produktionssektor steht - aller Computerisierung zum Trotz - die Kardinalproblematik mangelnder Akkumulation von Realkapital seit 40 Jahren auf der Agenda. Da kann man vieles wunderbar glattbügeln mit der sogenannten Finanzialisierung, aber an der realwirtschaftlichen Situation ändert das herzlich wenig. Die wird kaschiert durch die Rekapitalisierung Osteuropas und den Aufstieg der Schwellenländer. Mindestens 30 Prozent der Weltproduktion kommt aus diesen Ländern, die natürlich kapitalistisch sind und noch sehr viel Spielraum der Entwicklung haben. Weshalb ich ja auch nicht der Meinung bin, dass es nicht weit her ist mit der manchmal beschworenen finalen Krise des Kapitalismus. Ich würde mich ja freuen, wenn sie morgen ausbräche - aber ich würde nicht unbedingt darauf setzen und schon gar nicht zur Handlungsgrundlage machen, den Kapitalismus am Ende zu wähnen. Denn der ist leider nur am Ende mit der revolutionären Aktion.

Es gibt selbst in bürgerlichen volkswirtschaftlichen Kreisen Begriffe, die jetzt wieder aktuell geworden sind, säkulare Stagnation zum Beispiel. Kommt das Denken darüber, dass der Kapitalismus keine unendliche Angelegenheit sein muss, auch in der bürgerlichen Nationalökonomie an? Was halten Sie davon?
Säkulare Stagnation ist eine Theorie - der bedeutendste Vertreter war der amerikanische Ökonom Alvin Hansen -, die in den 30er Jahren entwickelt worden ist. Sie spiegelt zunächst einmal einen realen Sachverhalt wieder. Wenn ich den Kapitalismus seit 40 Jahren in der Krise des Fordismus gefangen sehe, sagt die Theorie der säkualen Stagnation in gewisser Weise nicht viel anderes. Nämlich, dass das Akkumulationsregime des Kapitalismus - auf den Sektor des Realkapitals bezogen - überhaupt nicht funktioniert. Die Frage ist, auf welche Weise sie überwunden wird. Da gibt es sehr verschiedene Varianten. Es gab die amerikanische in Gestalt von Paul Sweezy, der glasklar formulierte, dass der Zweite Weltkrieg den amerikanischen Kapitalismus gerettet hat. Das ist sicherlich die schlechtestmögliche Variante einer Überwindung der säkularen Stagnation.

Und die bessere?
Es gibt natürlich Felder, wo der Kapitalismus sich real ausbreiten kann - das ist der ganze Bereich der Umweltökonomie, der Ökologie. Und da ist nach wie vor nicht entschieden wie sich das Kapital zu dieser Herausforderung stellt. Es gibt einerseits die Trumpsche Version, dass das sowieso alles Quatsch ist. Und es gibt klügere Kapitalisten, die sehr auf Ökologie setzen. Es ist ja nicht so, dass Windkraftwerke heute etwa nur von irgendwelchen Biobauern und Ökofreaks betrieben werden, sondern das ist ein Investitionsfeld der Elektrokonzerne, der Elektroenergieproduzenten geworden. Einerseits, das ist völlig klar und gehört einfach zum Geschäft, kämpfen sie um ihre Pfründe - andererseits haben sie längst erkannt, dass sie da einsteigen müssen. Gerne wird immer wieder behauptet, das könnten die Kapitalisten nicht, das bringe keinen Profit. Ich befürchte, dass man ökologische Industrie außerordentlich profitabel gestalten kann.

Warum befürchten Sie das?
Ich bin ja nicht unbedingt der Anhänger des Kapitalismus und hätte es ganz gerne, dass er endlich mal scheitert. Aber da ja der Gegenpol, politisch gesehen die Linke - womit ich nicht die einzelne Partei meine, sondern die ganze politische Richtung - im Augenblick überhaupt nicht in der Lage ist, auf diesem Fels irgendwelche Konzepte zu entwickeln, muss man befürchten, dass die Klimarettung von den Kapitalisten organisiert wird.

Warum möchten Sie, dass der Kapitalismus scheitert, wenn sich doch die Mehrheit des Volkes, auch die vielbeschworene Arbeiterklasse, sich mehrfach anders entschieden hat?
Ich kann doch meine persönliche Auffassung dazu haben, mit dem klaren Bewusstsein, dass die zur Zeit nicht mehrheitsfähig ist. Marx war doch nie der Auffassung, dass in dem Augenblick, wo er gegen den Kapitalismus argumentierte, die Mehrheitsmeinung repräsentiert. Er war vielleicht der Auffassung, er müsse den Leuten seine Auffassung nahe bringen, was ja auch völlig legitim ist. Aber das Neue ist nie von der Mehrheit gekommen, sondern das Neue war, gerade weil es neu war, zunächst immer höchst umstritten. Ich glaube nicht, dass es ein bedeutender Erfolg wäre, eine Theorie aufzustellen oder zu propagieren, die sofort von den Leuten akzeptiert wird. Aber vielleicht wird es irgendwann auch das geben, wir werden sehen.

Es gibt eine ganze Reihe von drängenden Herausforderungen, die der Kapitalismus selbst produziert. Unter anderem die Tatsache, dass wir mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen an einen Punkt gekommen sind, wo die gesamte Zukunft der Menschheit in Frage gestellt ist. Aber der Kapitalismus könnte auch Mittel hervorbringen, um uns womöglich einen Teil der Weltprobleme vom Hals zu schaffen.
Freilich ist eine ökologische Industrie unter kapitalistischer Führung besser als keine ökologische Industrie – aber ich gönne es ihnen nicht. Leider sehe ich auf der linken Seite so gut wie nichts hinsichtlich der Entwicklung von ökologischen Konzepten. Deshalb nehme ich – Realist, wie ich bin - an, dass die Schritte in dieser Richtung von Seiten des Kapitals und seiner Politiker erfolgen werden. Aber es wäre schön, wenn der ökologische Umbau auch eine soziale Komponente hat. An der sollten wir doch mindestens genauso interessiert sein, weil eine intakte Natur mit einer nicht intakten Gesellschaft nicht funktioniert.

Ihr Vater hat sich mal als »fröhlichen Marxisten« bezeichnet. Sind Sie auch so einer und gibt es noch mehr von der Sorte?
Zuweilen kann ich durchaus auch fröhlich sein.

Was ist denn ein fröhlicher Marxist? Jeder von uns kennt genügend Menschen, die die reine Lehre oft ein bisschen blutleer weitergereicht haben.
Das sind meistens die ideologisch Verbissenen und Verbiesterten und zu denen zählte mein Vater wahrlich nicht - und ich hoffe, ich zähle auch nicht dazu. Also ich würde schon glauben, dass ein Blick in diese Welt einem wahrlich die Fröhlichkeit nehmen kann, aber das man sie trotzdem behalten sollte.

Weil das was mit Optimismus zu tun hat?
Ja! Ich hatte einen Freund, der ist leider früh verstorben, der nannte sich selber immer einen skeptischen Optimisten. Das scheint mir gar nicht so unzutreffend bezüglich meiner eigenen Person zu sein.

Eine große Idee steckt doch – Skepsis hin oder her - voller Emotionen. Um noch einmal auf die Blutleere zurück zu kommen. Woran lag es eigentlich, dass bei Marx-Seminaren in der DDR die mathematischen Formeln wichtiger waren als Emotionen?
Alexander Herzen, ein Zeitgenosse von Marx, hat mal sehr schön geschrieben: »Unsicher im Glauben suchten sie das Dogma, unsicher im Dogma suchten sie den Glauben«. Und das war, glaube ich, der Kardinalfehler des so genannten gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums in der DDR. Um Gottes Willen nichts anrühren und möglichst lupenrein - das ist natürlich blutleer. Frei von der Leber weg argumentieren, mit der Gefahr, auch daneben zu liegen, das gehört mit dazu. Auch mal was auf den Deckel kriegen, das gehört auch dazu. Wenn aber all das nicht gegeben ist, kommt eben dieses Schubladendenken, was ganz schwer auszurotten ist. Die Leute haben Schubladen ja ganz gerne, da ist alles schön einsortiert ist, hat seine Ordnung, ist an seinem Platz - und man kann darauf zurückgreifen ohne versehentlich in die Scheiße zu fassen, ja. Da ist auch ein Widerstreit in jedem einzelnen, der ein Herz und ein Hirn hat. Einerseits will man ein gewisses Minimum an Sicherheit haben, das stimmt, das stimmt und das stimmt. Andererseits die Vision. r Diesen Widerspruch muss man aushalten, wie so vieles in diesem Leben.

Wer aber sagt, dass bei allem Künftigen nicht solche Fehler wieder gemacht werden? Sie reden von der Überwindung des Kapitalismus und der Revolution. Andere sind inzwischen vorsichtiger geworden, weil sie nicht wissen, wo sie sich nach der nächsten Revolution wiederfinden.
Das weiß niemand. Aber, das habe ich zu DDR-Zeiten gelernt, wer ganz sicher gehen will, kommt nicht voran. Und dass Revolution sowieso, aber schon manches andere davor auch, risikobehaftet ist – völlig klar. Man braucht ja nur die vergangenen 25 Jahre betrachten. Also der Sozialismus im 21. Jahrhundert in Lateinamerika – das scheint wohl nicht so ganz das Wahre gewesen zu sein. Der Arabische Frühling - scheint wohl nicht ganz das Wahre gewesen zu sein. Ja, und trotzdem mit Luther muss ich sagen: »Ich pflanze mein Bäumchen, auch wenn die Welt morgen untergeht.« Dieses System produziert immer wieder Spannungen, die zum Ausbruch kommen. Und was aus diesem Ausbruch resultiert, kann niemand voraussagen. Da komme ich auf den alten Lichtenberg zurück: »Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber ich weiß, es muss anders werden, damit es besser wird.«

So haben es die Menschen in Griechenland lange Zeit auch gesagt. Und dann wurden sie enttäuscht.
Das ist das Furchtbare, selbstredend. Mein Freund Karl-Heinz Roth hatte 2015 ein Interview gemacht mit »konkret«, das war ganz kurz nachdem die Regierung Tsipras stand. Und er hat gesagt, das werden völlig zivilisierte Verhandlungen, SYRIZA ist so sozialdemokratisch geworden inzwischen, das wird alles sehr zivil ablaufen. Er hatte nicht die Illusion geteilt, dass SYRIZA da irgendetwas anders machen könnte. Und auch ich habe gesagt, Griechenland kann kaum etwas anderes tun. Es ist die Frage, ob man in solcher Lage die Regierung übernimmt oder nicht. Aber Griechenland ist nicht Russland. Russland hat sich 70 Jahre gegen die Welt behauptet, Griechenland könnte es keine 70 Tage. Zu glauben, dass in einem Zipfel der Welt ein Sozialismus aufblühen kann, das halte ich für völlig illusorisch. Spätestens seit 1990 ist klar, es geht nur mit einer sukzessive diese Welt ergreifende Revolution. Der Terminus »globale Revolution« sagt es ja eigentlich – auch wenn der ganz unpolitisch gemeint ist. Aber eine Revolution, die nicht den Globus erfasst im Laufe eines relativ kurzen Zeitraums, die wird es wahrscheinlich nicht richten.

Die globale Revolution bräuchte einen Träger, richtig?
Da kann ich nur mit Bourdieux antworten: »Das sind die, die es machen«.

Die, die auf die Zumutungen des Kapitalismus reagieren und die falschen Schlüsse ziehen, ist die Klasse, auf die so viel Hoffnungen gesetzt wurde -, die aber nach rechts driftet und eine Internationale der autoritären Regimes hervorbringen will.
Das war, glaube ich, eine der bedeutendsten Fehlprognosen von Marx. Die Arbeiterklasse hat es in schweren Klassenkämpfen vermocht, sich in dieser Gesellschaft hochzuarbeiten, ein gleichberechtigtes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Das hat Marx nie in Erwägung gezogen. Im Gegenteil. Er schreibt völlig eindeutig, »der Leibeigene konnte sich zum Mitglied der Gemeinde hocharbeiten. Der Kleinbürger, die Arbeiterklasse oder der Proletarier sinkt immer tiefer«. So. Diese Prognose ist ad absurdum geführt worden, weil die Arbeiter sich hochgearbeitet haben. Sie haben heute etwas mehr zu verlieren als ihre Ketten, und das wissen sie auch. Ich glaube, dass viel eher eine sehr oft überlesene Feststellung gleich im Eingang des »Kommunistischen Manifests« zutreffen wird: »Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen«, und in diesen Kämpfen, in den Aufbau einer neuen Gesellschaft sind die gegeneinander kämpfenden Klassen untergegangen. Als Klasse haben weder die Sklaven noch die Sklavenhalter den Feudalismus erlebt, weder die Leibeigenen noch die Feudalherren den Aufbau des Kapitalismus. Warum sollten Bourgeoisie und Proletariat im Kampf um den Aufbau des Sozialismus, Kommunismus oder Postkapitalismus als Klassen erhalten bleiben? Insofern trauern wir dieser Prognose nach, aber wir müssen zur Kenntnis nehmen und respektieren, dass die Arbeiter sich anders entschieden haben. So wie wir respektieren mussten, dass sich die Mehrheit der DDR-Bevölkerung am 18. März 1990 für den Anschluss entschieden hat.

In der Linken gibt es gerade eine Renaissance der Klassenpolitik. Es wird im Gefolge des Buches von Didier Eribon gefordert, die Klasse wieder zu entdecken. Kommt darin die Sehnsucht zum Ausdruck, es möge doch so eine Klasse geben, die man adressieren, vielleicht sogar anführen kann? Oder ist da auch was dran, dass man als Linker eigentlich stärker über Klassengegensätze und Klassenkampf wieder reden muss?
Warren Buffett hat einmal ziemlich klar gesagt: »Natürlich gibt es Klassenkampf und wir sind auch dabei, ihn zu gewinnen«. Natürlich gibt es Klassen, und wo Mehrwert produziert wird, da gibt es Leute, die diesen Mehrwert produzieren. Und das Proletariat, oder die Produzenten sind eine Klasse. Sie haben aber eine andere Aufgabe, als ihnen historisch ursprünglich zugedacht worden war. Aber deswegen gibt es doch Klassen und Klassenkampf. Man kann sich ja über die Gewerkschaften beschweren, wie man will - sie haben große Fehler gemacht, sind immer noch mit vielen Fehlern behaftet - aber sie sind die einzigen, die in diesem Land überhaupt noch was politisch bewegen.