Rinderklau im wilden Osten

Landwirte in Grenznähe sorgen sich um die Sicherheit ihrer Herden

  • Hendrik Lasch, Bergen
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Schild ist nicht zu übersehen. »Betriebsfremden Personen ist das Betreten der Anlage verboten« steht über der Einfahrt zu den Ställen der Landwirtschafts-GmbH in Bergen. Die Tafel mit der Warnung ist freilich rostig und in die Jahre gekommen. Ungebetene Besucher, wie sie neuerdings Agrarbetriebe im Osten Deutschlands heimsuchen, würden sich davon kaum aufhalten lassen. »Das sind Profis«, sagt Geschäftsführerin Claudia Mönch: »Die wissen genau, was sie wollen.«

In Mönchs Betrieb wollten sie eine Mutterkuhherde: 21 Jungrinder und 23 Färsen, die auf Weiden nördlich von Hoyerswerda ordentlich Fleisch hätten ansetzen sollen. Im Oktober 2016 hatten sich Mönch und ihre Kollegen schweren Herzens von 450 Milchkühen trennen müssen, deren Haltung sich wegen des niedrigen Milchpreises längst nicht mehr rechnete. Die Fleischproduktion versprach dagegen Erträge, zumal der Betrieb auf Öko-Landwirtschaft umstellt. »Wir haben viel Grünland«, sagt Mönch, »das muss man ja nutzen.«

Am 3. März freilich wurden die Tiere, die das Gras hätten fressen sollen, aus ihrem Stall im kleinen Ort Spreewitz geholt. Die Täter seien »rein durchs Tor, ran an den Stall und haben alle eingeladen«, sagt Mönch. In Sachsen war das der erste Fall von Herdendiebstahl. Im benachbarten Brandenburg hat sich das Phänomen indes bereits zu einer »Welle ohnegleichen« ausgewachsen, sagt Sebastian Scholze vom Landesbauernverband. Im ersten Quartal 2017 wurden 310 Tiere gestohlen, doppelt so viele wie im gesamten Jahr 2016. Auch Scholze beobachtet ein hohes Maß an Professionalisierung. In Neuzelle, direkt an der Oder, wurden aus einem Stall gezielt vier Zuchtbullen entwendet: je 1200 Kilo schwere Uckermärker Fleischrinder. »Wer sich denen nähert, muss Eier haben«, sagt Scholz salopp - und um den hohen Wert der Tiere wissen.

Denn zu vermuten ist: Zu Koteletts werden die geklauten Rinder nicht verarbeitet. In der Branche geht man davon aus, dass sie östlich der EU-Außengrenze, in Russland und der Ukraine, genutzt werden, um neue Herden und Betriebe aufzubauen. »Anders ist das nicht zu erklären«, sagt Scholz. In der Europäischen Union seien die mit Ohrmarken versehenen Tiere nicht zu vermarkten.

Die Herdendiebstähle wären damit eine neue Spielart einer Grenzen übergreifenden Kriminalität, die im Osten der Bundesrepublik seit etwa zehn Jahren für Unmut sorgt und mit der sich auch Ängste schüren ließen - gerade in Wahlkampfzeiten. 2007 traten die frischgebackenen EU-Länder Polen und Tschechien dem Schengen-Abkommen bei, womit Grenzkontrollen entfielen. Die Freizügigkeit erleichterte Reisen und Handel, führte aber auch zu einem sprunghaften Anstieg von Diebstählen und Einbrüchen. In Orten nahe der Grenze wurden Häuser und Garagen ausgeräumt, Autos geklaut, Bagger von Baustellen oder bei Baufirmen vom Hof geholt. Auch der Agrarbetrieb in Bergen war mehrfach betroffen. So wurden 2010 zwei Traktoren gestohlen, die später an einem Grenzübergang letztmals gesichtet wurden.

Das Thema ist politisch von einiger Brisanz. Die Diebstähle erschüttern das Sicherheitsgefühl der Bürger; von einem »Gefühl der Ohnmacht« spricht Claudia Mönch. Verunsicherte Bürger, die sich von Staat und Polizei alleingelassen fühlten, gründeten teils Bürgerwehren und gingen auf Streife; Läden, die Pfefferspray oder Überwachungskameras anbieten, machten Umsatz. In Wahlkämpfen wie vor den Landtagswahlen 2014 in Sachsen und Brandenburg sattelte nicht zuletzt die AfD massiv auf das Thema auf - und fuhr in Grenznähe beachtliche Wahlergebnisse ein.

Sie profitiert dabei zum Teil auch von einer Diskrepanz zwischen Statistiken und gefühlter Lage. Zwar gibt es etwa in Städten wie Görlitz tatsächlich noch immer viele Wohnungseinbrüche; als Reaktion setzen die Behörden jetzt auf verstärkte Videoüberwachung. Zugleich aber belegen die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik, dass die Straftaten längst nicht mehr das Ausmaß wie in den 90er Jahren haben und auch im Vergleich zur Zeit nach dem EU-Beitritt zurückgehen. In Sachsen wurden der Grenzkriminalität 2016 gut 18 000 Delikte zugeordnet, 4200 weniger als 2014. Beim Autoklau verzeichnete man in Ostsachsen 409 Fälle, 100 weniger als im Jahr davor. Das Innenministerium verweist auf gemeinsame Fahndungsgruppen mit Polen und Tschechien, die an den Autobahnen Kontrollen durchführen. Allerdings: Von 14 Gemeinden, die im Kriminalitätsatlas der Landespolizei dunkelrot markiert sind, weil es dort mehr als 10 000 Straftaten je 100 000 Einwohner gibt, liegen sieben direkt oder sehr nahe an der Grenze.

Viehdiebstähle schlagen in der Statistik kaum zu Buche; obwohl die Zahlen steigen, ist ihr Anteil an den Straftaten insgesamt marginal. Das ist ein Grund, warum Landwirte wie Claudia Mönch nicht auf ähnliche Erfolge wie beim Autoklau hoffen. »Wir Bauern sind eine zu kleine Klientel, als dass das irgendjemanden kümmern würde«, sagt sie. In Brandenburg hat die Polizei zwar immerhin im März eine Sonderkommission »Koppel« gebildet. Seither hat es zunächst keine Viehdiebstähle mehr gegeben. In Sachsen dagegen hat das Thema mangels Masse die Landespolitik noch nicht erreicht.

Wunder sind ohnehin nicht zu erwarten. Betroffene wie Mönch wissen um die prekäre Lage bei der Polizei, die in Sachsen wie Brandenburg unter den Auswirkungen von Strukturreformen leidet und in der Fläche kaum noch präsent ist. Und auch wenn in Ostdeutschland die Bundespolizei nicht so stark ausgedünnt wurde, wie zunächst beabsichtigt: Umfassende Sicherheit im Grenzgebiet kann auch sie nicht garantieren. Für die verbliebenen Streifen, so der Eindruck der Landwirtin, haben ein paar geklaute Rinder nicht die höchste Priorität - zumal sie vielleicht auch nicht wüssten, wie sie im Fall einer erfolgreichen »Jagd« mit der Herde umgehen sollen.

Ändern wird sich das kaum, sagt Mönch, die lange Jahre Vizechefin des Bauernverbands in Sachsen war. Die Bauern fühlten sich zwar »alleingelassen« und erwarteten von der Politik Unterstützung. Mönch ist aber zu pragmatisch - oder soll man sagen: ernüchtert? -, um damit zu rechnen, dass der Kuhklau zum Anlass genommen wird, die Polizei im Grenzgebiet personell wieder aufzustocken. Zwar fordern sowohl CDU als auch SPD jeweils 15 000 neue Stellen bei der Polizei in Bund und Ländern. Die Sozialdemokraten erhoben die Forderung unter dem Eindruck der Ausschreitungen beim Hamburger G20-Gipfel. Als wirklich ernsthaft sieht Mönch jedoch solchen Aktionismus nicht an: »Das sind Lippenbekenntnisse kurz vor einer Wahl.«

Also gilt: Selbst ist die Frau. Auch wenn Geld dafür eigentlich gar nicht da ist, hat Mönch für ihren Betrieb in Bewegungsmelder und Videotechnik investiert; bei Alarm geht eine Sicherheitsfirma in die Spur. »Mehr können wir nicht machen«, sagt die Geschäftsführerin. Den Schaden des Diebstahls vom März hat die Versicherung immerhin noch ersetzt. Im Herbst sollen neue Tiere kommen - und dann hoffentlich auch bis zum Schlachttag bleiben.

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