nd-aktuell.de / 29.08.2017 / Kultur / Seite 14

»Wir gründen eine eigene Zeitung!«

Berlin kann auf 400 Jahre Pressegeschichte zurückblicken und zählt damit zu den Pionieren im Gewerbe

Karlen Vesper

Man möchte es kaum glauben: »Berlin war der Welt um einiges voraus«, urteilte dereinst Peter de Mendelssohn und meinte damit eine Zeit, als die Stadt tatsächlich arm, aber keinesfalls sexy war. Auf vier Jahrhunderte Pressegeschichte kann sie in diesen Augusttagen zurückblicken.

Es begann mit einem Kurfürstlichen Post- und Botenmeister. Damals hatte Berlin weniger als 4000 Einwohner und glich eher einem Dorf, ja, bestand noch aus Dörfern. London hatte 50 mal mehr Einwohner, an der Themse jedoch erschien die erste regelmäßig gedruckte Wochenzeitung fünf Jahre später, 1622, mit den »Weekly News«. In Frankreich gab es die ersten Zeitungen auch erst um diese Zeit, in Skandinavien 1644, in Spanien 1704.

Vom ältesten für Berlin verbürgten und von Christoph Frischmann herausgegebenen Nachrichtenblatt ist ein Exemplar aus dem Jahre 1617 überliefert. Das erhaltene Journal trägt die Nummer 36 und informiert darüber, was sich am 24. August in Venedig, am 27. August in Köln und am 1. September in Prag Spektakuläres ereignete. Zu den Amtspflichten eines Botenmeisters gehörte, möglichst viele und gute Kontakte zu Herrscherhäusern und einflussreichen Patrizierfamilien im ganzen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu unterhalten, um seinen Potentaten stets auf dem Laufenden zu halten. Frischmanns Ehrgeiz erschöpfte sich darin offenbar nicht, er wollte ein breiteres Publikum aufklären und unterhalten. Dank ihm gehörte Berlin »unzweifelhaft zu den Pionieren des deutschen, wenn nicht gar des europäischen Zeitungswesens«, wie Mendelssohn in seinem 1959 erstmals erschienenen, voluminösen Standardwerk über »Menschen und Mächte« stolz vermerkte, das zum im Jubiläumsjahr neu herausgegeben wurde, erweitert und aktualisiert bis in die digitale Gegenwart von den Medienwissenschaftlern Lutz Hachmeister, Leif Kramp und Stephan Weichert.

Ein neues Kapitel schlug nach den Bekanntmachungen des Botenmeisters der Buchhändler Johann Andreas Rüdiger Anfang des 18. Jahrhunderts auf. Dreißig Jahre leitete er die »Königlich privilegirte Berlinische Zeitung«, die nach seinem Tod sein Schwiegersohn Christian Friedrich Voss übernahm. Ihm verdankte das Blatt bald seinen volkstümlichen Namen, »Vossische«. Es blieb bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie im Zeitungskopf ausgewiesen, »im Verlag Vossischer Erben«.

Die Eigensinnigkeit und Sturheit der »Tante Voss« wiederum führte zu einer Neugründung, die Zeitungsgeschichte schrieb. Bereits in jungen Jahren ein Anzeigenmogul, war der 26-jährige Rudolf Mosse beim Verleger der ältesten Berliner Zeitung, bei Carl Robert Lessing, brüsk abgewiesen worden: »Provision gibt’s ein für allemal nicht!« Weshalb Mosse entschlossen entschied: »Wir gründen eine eigene Zeitung! Und wenn wir alles Erworbene daransetzen müssen. Dem Mann werden wir es zeigen!« Mosses »Berliner Tageblatt« erschien zum ersten Mal im Dezember 1871, als Bismarck seinen dritten und letzten Krieg für Deutschlands Einigung gegen Frankreich gewonnen hatte und kurz darauf Berlin Reichshauptstadt wurde. Ein günstiger Augenblick also für einen Blattmacher. Aber auch Zeitungen machen Kinderkrankheiten durch. Nach knapp drei Jahren brach im »Berliner Tageblatt« eine Palastrevolte aus. Verleger und Redakteure konnten sich nicht über die Gestaltung der Zeitung einigen. Die Redaktion zog aus dem Haus in der Jerusalemer Straße aus und gründete um die Ecke, in der Zimmerstraße, das »Neue Berliner Tageblatt«. Die Konkurrenz belebte das Geschäft. Es sollten zahlreiche weitere Morgen- und Abend- sowie Sonntagsblätter und reine Illustrierte hinzukommen.

Nebst Voss und Mosse gehört zu den großen Namen an Berlins Zeitungshimmel natürlich auch Ullstein. Leopold war schon ein älterer Herr, als er die von einem Journalisten gegründete und kurz darauf vor dem finanziellen Aus stehende »Berliner Zeitung« unter seine Fittiche nahm und als deren Credo er in der ersten Abonnement-Einladung im Januar 1878 deklarierte: »Die Berliner Zeitung steht auf einem durchaus freisinnigen Standpunkt, unabhängig von Cliquen- und Parteiwesen.«

Bei der Lektüre schießen einem immer wieder aktuelle Assoziationen durch den Kopf. Dabei starb Mendelssohn bereits 1982 - nicht in Berlin, sondern in München, wo er 1908 geboren worden ist. Das journalistische Handwerk erlernte er in der Weimarer Republik in Berlin, für ihn damals »die größte Zeitungsstadt der Welt«. Es ist nicht verwunderlich, dass er die sogenannten Goldenen Zwanziger euphorisch als »Berliner Jahrzehnt« feiert, das es »wirklich nur einmal gibt«: »Es kommt gewiss nicht wieder.« Nach Hitlers Machtatritt musste er emigrieren, zunächst nach Wien, dann nach Paris, 1936 nach London. Im Exil verfasste er zwei beachtliche Biografien, über Churchill und Thomas Mann (»Der Zauberer«). Nach Deutschland kehrte er als Pressemann der britischen Armee zurück, in deren Besatzungszone er u.a. an der Gründung des »Tagesspiegels« und der »Welt« mitwirkte, als deren Berliner Chefredakteur er in der 7. Etage des Uhrenturm des Ullsteinhauses im Westteil der Stadt residierte.

Er hat ein unglaublich minutiöses, geradezu detailversessenes, bis heute unübertroffenes Panorama deutscher Pressegeschichte von ihren Anfängen bis in die ersten Nachkriegsjahrzehnte verfasst. Sein Kaleidoskop atmet Zeitgeist im positiven Sinn. Das alte Berliner Zeitungsviertel erwacht bei ihm zu neuem Leben - obwohl dieses nach den furchtbaren zwölf Jahren faschistischer Diktatur, der Unterdrückung von Meinungs- und Pressefreiheit, nach der Gleichschaltung der Printerzeugnisse, Arisierung jüdischer Verlage sowie Austreibung, Ausbürgerung und Auslöschung kreativer und produktiver Geister nicht mehr wiedererstehen konnte. Bis zum 30. Januar 1933, so zählt Mendelssohn auf, gab es »147 richtige Zeitungen in einer einzigen Stadt«.

Die meisten Berliner Journalisten, welche »die Katastrophe« in Deutschland überlebt hatten oder aus der Emigration zurückgekehrt waren, versuchten in der Trümmerwüste Berlin rasch wieder anzuknüpfen an die Presse vor Hitler. Mendelssohn umschifft in vorsichtigen Formulierungen allerdings, dass ausgerechnet er es war, der den schnellen Wiedereinstieg von Ullstein in den Berliner Zeitungsmarkt verzögerte. Das bis 1933 größte deutsche, von den Nazis zwangsenteignete Editionshaus konnte erst nach einem Restitutionsurteil ab 1952 als Buch- und Zeitungsverlag wieder aktiv werden.

Die letzte NS-Zeitung und zugleich Berlins kurzlebigstes Blatt, eine Durchhalte-Postille mit dem Titel »Panzerbär« erschien noch vom 23. bis 29. April 1945, als die Rote Arme bereits in die Reichshauptstadt eingedrungen war. In der rechten oberen Ecke des Pamphlets stand: »Lesen und weitergeben!« Mendelssohn kommentiert: »Die Berliner achteten weder die eine noch die andere Aufforderung.« Erst am 15. Mai 1945 erschien wieder eine Zeitung, die »Tägliche Rundschau« der Sowjetischen Militäradministration. Mendelssohn irrte jedoch, wenn er meint, die russischen Presseoffiziere hätten ein Format nach dem NS-Vorbild des »Völkischen Beobachters« gewünscht; die »Prawda« war ihr, dann jedoch nicht durchgesetztes, Idol.

Natürlich befasst sich Mendelssohn auch mit dem Imperium des Hitlerförderers Alfred Hugenberg und dem Monopol von Axel Cäsar Springer, der in NS-Zeit als angehender Journalist in den »Altonaer Nachrichten« fleißig antisemitische Propaganda betrieb. Man begegnet im Buch auch dem umtriebigen Willi Münzenberg und dem couragierten Rudolf Herrnstadt. Im Abschnitt über die Januarkämpfe im Berliner Zeitungsviertel 1919 kolportiert Mendelssohn noch die Legende vom Spartakus-Aufstand. Dass die Zeitungslandschaft in der DDR etwas eintönig war, kann man hingegen nicht bestreiten. »Wir gründen eine eigene Zeitung«, hieß es dann auch nach der »Wende«. Neue Blätter sprossen aus Ostberliner Boden, um ebenso schnell zu verwelken. Mendelssohn hinterließ eine ewige Fundgrube, ein solides Handbuch für alle Zeitungsmacher und solche, die es werden wollen.

Peter de Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der deutschen Presse. Ullstein Verlag. 812 S., geb., 42 €.