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Transparent wie ein Seidenhemd

In Berlin-Neukölln macht ein deutsch-indisches Modelabel vor, wie Fair-Trade-Kleidung funktionieren kann

  • Benjamin Beutler
  • Lesedauer: 7 Min.

Wenigstens aus Caros Laptop scheint die Sonne. Okerstraße, in einem der vielen Co-Working-Werkstattbüros in Neukölln. Sommerlicher Nieselregen. Kaum ein Berliner Kiez ist so dicht und eng bebaut wie der Schillerkiez. Nur wenige Meter Richtung Westen, fünf Minuten von der U-Bahnhaltestelle Leinestraße, vorbei am Aldi - auf der anderen Straßenseite der »Buchhafen« mit Susan Sonntag und Walter Benjamin im Fenster -, öffnet sich nach einer Handvoll »Spätis«, Hamburger-Bratereien und Eckkneipen der Flughafenhorizont des Tempelhofer Feldes.

Die Pflastersteine leuchten, und in der Küche zum Hinterhof kocht sich die Mittzwanzigerin Caro einen Morgentee. »Wir wollen nicht, dass unsere Kleidung als Ökoklamotten wahrgenommen werden, die sind ja wirklich meistens nicht so schön«, sagt die junge Neuberlinerin. Und kommt gleich zur Sache. Na gut, ganz neu ist Caro nicht im Szeneviertel, wo die Mieten gerade in die Luft gehen wie polnische D-Böller. Knapp drei Jahre ist es her, dass die Wirtschaftsingenieurin aus Erlangen nach ihrem Studium in Dresden in die Hauptstadt zog.

Wo sie nun arbeitet. »Jyoti will Fair-Trade und gute Mode«, sagt Caro beim ersten Schluck Tee. Es wird ein langer Tag werden. Den Ausstellungsraum erhellen große Neonlichter an der Decke. Im Schaufenster steht beziehungsweise hängt die aktuelle Kollektion, klassisch modern, schlichter Stil, gedeckte Farben. Der Name des kleinen Modelabels, das seine Hemden, Hosen und Taschen an einem selbstgebauten Kleiderständer aus Ästen und dicken Seilen ins Schaufenster hängt, klingt nicht nur indisch, sondern ist es auch, ein beliebter Frauenname: Jyoti, er bedeutet »Aufgehendes Licht«.

Im Onlineshop ist die gesamte Produktionskette der Modeware aufgeführt, vegane Seide, Bio-Zertifikate, handgewebt, handbedruckt, handbestickt. Modeherstellung, so transparent wie ein Seidenhemd. Stoffhändler, Musterdrucker, Näherinnen, Designerinnen, die Bank - bis auf die Baumwollbauern und -bäuerinnen sind alle Beteiligten an der Herstellung der Kleidung mit Porträtfotos und Kurzbiografien im Internet zu sehen. Selbst die Webseiten-Designerinnen werden vorgestellt. »Gerade habe ich mit Indien telefoniert, über WhatsApp, wir haben den direkten Kontakt zu allen Geschäftspartnern«, erzählt Caro. Sie, die ihr Gegenüber beim Sprechen konzentriert anschaut, liebt die Organisation, Kontakte zu knüpfen, neue Menschen kennenzulernen, Excel-Tabellen zu pflegen. Ganz besonders ins Berufsherz geschlossen hat sie die »Transparenz in Wertschöpfungsketten«, wie es im Nachhaltigkeitsslang so völlig unrebellisch heißt.

Dabei braucht es im Umgang mit Kleidung eine Einkaufsrevolution. Um sich im Dschungel der Modeindustrie zurecht zu finden, eine Hose zu kaufen, an der im übertragenen Sinne kein Blut klebt, einen Rock, der bei der Herstellung kein Trinkwasser mit Agrochemie verseucht hat, dafür ist nicht nur das richtige Bewusstsein nötig. Auch eine Menge Wissen muss man in der Tasche und im Kopf haben.

Eine Viertelstunde U-Bahnfahrt vom kleinen Laden entfernt, am Alexanderplatz, sieht es modemäßig unübersichtlich aus. In den Riesenkaufhäusern irrt der Klamottenkunde bei Dumpingketten von Primark bis TK Maxx durch Untiefen von Kleiderständern und Wühltischen. Hier hat Masse den Vorrang vor Klasse. »H&M hat 52 Kollektionen, jedes Jahr, eine pro Woche«, schüttelt Caro den Kopf. Bei Jyoti gibt es zwei Kollektionen, die sich in ihrer Linie kaum ändern - »nachhaltiges Design«, zeitlos schön. Bei den Großen landen schon in der Fabrik 15 Prozent der Textilien im Müll. Für Caro, die auch selbst mal »Containern« geht, also von Supermärkten weggeworfene Lebensmittel aus dem Abfallcontainer fischt, ist das eine sinnlose Übernutzung der Natur. Was nicht gekauft wird, das landet tonnenweise auf dem Müll.

Von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ganz zu schweigen. Den Arbeitern - die meisten sind Frauen in Asien - werden Hungerlöhne bezahlt, mörderische Zwölf-Stunden-Schichten wie in den Frühzeiten europäischer Industrialisierung sind die Regel. Arbeitsrechte und Gewerkschaften dagegen sind die Ausnahme, immer wieder kommen die Discounter wegen einstürzender oder brennender Sweatshops, toter Näherinnen sowie Kindersklavenarbeit in die Schlagzeilen.

Wer in Sachen Fair-Trade Orientierung braucht, für den ist die Welt kleiner Modelabels wie das aus dem Schillerkiez genau das Richtige. Mit Caros Erzählungen und Fotos von der anderen Seite der Lieferkettenwelt geht es auf die Reise, vom Stoff zum Herrenhemd, von indischen Baumwollbauern bis zur Ladentheke in der Okerstraße. In der Nähwerkstatt im südindischen Örtchen Chittapur arbeiten im Haus des lokalen Kooperationspartners der jungen Modemacherinnen, der Gesundheitshilfsorganisation Jyothi Seva Kendra, elf Frauen an der Produktionslinie. Die Arbeit ist abwechslungsreich statt monoton.

Auch die Näherinnen werden vorgestellt: Ayesha näht Accessoires und Kleidungsstücke. Gerade zurrt sie an der neuen Kollektion, die im Herbst fertig sein wird. Ihre beste Freundin Nagma übernahm vor drei Jahren die Stelle ihrer Schwester Nilofar. Seit fünf Jahren verdient Safiya ihr Geld bei Jyoti. Von Beginn an vor sieben Jahren ist Suvarna dabei. Sie sagt, die Arbeit in der Klamottenfirma habe sie stärker und mutiger gemacht. Der Lohn helfe finanziell mehr als kräftig und mache sie »sehr glücklich«. Im Job lernte die Mutter richtig Englisch, neben der guten Arbeitsstelle ist auch die Fortbildung Teil des Fair-Trade-Gedanken.

Seit 2010 ist auch Halima mit von der Partie. Sie arbeitet neue Arbeiterinnen ein, ist Expertin für komplizierte Stickereien, mit dem Job finanziert sie die Ausbildung ihrer Kinder. Parveen, seit Firmengründung an der »National«-Nähmaschine beschäftigt, genießt in dem vor der Außenwelt geschützten Raum die Freiheit, unter gleichgesinnten Frauen nicht nur arbeiten, sondern auch offen und frei reden zu können. Für Shabanna sind es die Teamsitzungen, das gemeinsame Mittagessen, das gemeinschaftliche Nebeneinander-Nähen, das für sie das Besondere am Job ausmacht. Ihre Alltagssorgen vergisst Laxmi bei der Umsetzung neuer Schnitte. Rizwana, die von allen als »die gute Seele« der Kleider-Manufaktur gemocht wird, sieht in ihren Kolleginnen »eine Familie« zusammenwachsen. Shashirekha lernte von ihren Mitstreiterinnen, nach Mustern zu nähen. Yasmeen, das Küken, ist mittlerweile auch schon vier Jahre dabei.

Um den Organisationskram, der bei einer Firma immer anfällt - Buchhaltung, Personal und Lohnauszahlung -, kümmert sich Sister Lucy Priya. Die Älteste im Bunde greift neben ihrer Arbeit bei der Partnerorganisation dem Fair-Trade-Unternehmen unter die Arme. »Je nach Bedarf mit einem strengen Blick oder ihrem verschmitzten Lächeln«, weiß Caro aus eigener Erfahrung über die katholische Nonne zu berichten. Hindus, Muslima, Christinnen unter einem Dach vereint, das ist gelebte freundschaftliche Koexistenz am Nähtisch.

Mode als guter Arbeitgeber, Bekleidung als Weltenverbinder - es ist die Vorstellung von einem guten Leben im falschen Wirtschaftssystem. Granatapfel für das Rot, Gelb aus Kurkuma, Braun-Grün aus Viehdung, Henna macht Orange-Grün, eigentlich passen die sandigen Farben so gar nicht zum knallbunten Indien. So kommt es, dass die Näherinnen zu Beginn mitleidig mit dem Kopf schüttelten, als sie das ruhige Blau der Männerhemden, das sanfte Melonen-Rosé der Sommerkleider unter ihre Nadeln bekamen. Auch kurze Hosen waren für sie zunächst ein schlechter Witz. »So langsam bekommen sie ein Gespür dafür, was der deutsche Geschmack will und was nicht«, berichtet Caro vom Geschmacks-Clash der Kulturen. Auch dass die deutsche Kundschaft nicht sofort kauft, dafür aber sofort reklamiert, wenn der Faden nicht hundertprozentig sitzt, die Größe leicht abweicht, eine Kante nicht perfekt gerade läuft - diese europäischen Eigenarten waren für die Inderinnen lange ein guter Grund für verständnisloses Lachen.

Ein ganz besonders breites Lächeln steht den Fair-Trade-Workerinnen dagegen am Zahltag im Gesicht. Alle drei Wochen wird abgerechnet, manche kassieren bar, die Auszahlung wird auch mal nach Bedarf vorgezogen. Einige der Näherinnen haben zum ersten Mal ein Bankkonto. Pro Sechs-Stunden-Tag gibt es 220 Rupien, eine Hausmiete kostet in der Kleinstadt im Monat rund 1500 Rupien. Urlaub wird von vielen Näherinnen als Verdienstverschwendung abgelehnt, lieber wollen sie durchgängig verdienen.

Und sie verdienen viel in einer verarmten Region ohne Jobs, erst recht nicht für Frauen. Der Monatslohn vieler Männer liegt bei 2000 Rupien und es schickt sich nicht, dass die Ehefrau mehr Geld nach Hause bringt. Für den Berliner Kleinverdiener sind die Kleidungsstücke dagegen alles andere als billig. Hemd und Hose zusammen kosten schnell 200 Euro und mehr. Faire, stylische Kleidung »made in India«, eine andere Mode ist möglich. Es kann aber erst eine echte Klamottenwende daraus werden, wenn alle in der Okerstraße - ob Hartz-IV-Bezieher, Studenten oder Dönerbudenbesitzer - genug Kleingeld dafür haben. Sich Solidarität über den eigenen Kiez hinweg leisten zu können, das ist eine weitere offene Frage der Gerechtigkeit. Das wissen auch die Jyoti-Macherinnen.

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