nd-aktuell.de / 01.09.2017 / Kultur / Seite 16

«Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr»

Wolfram Wette zieht Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914

Gerd Fesser

Am 1. Juli 1969 hielt der gerade gewählte Bundespräsident Gustav Heinemann vor dem Bundestag und Bundesrat in Bonn eine Rede, die großes Aufsehen erregte. Er sagte unter anderem: «Ich sehe als Erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe (…), sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.»

Der Historiker und Friedensforscher Wolfram Wette wählte Heinemanns Wort vom «Ernstfall Frieden» als Titel seines neuen Buches. Der Autor hat viele Jahre lang am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr gearbeitet, seit 1998 war er außerordentlicher Professor für Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Bekannt wurde er durch eine Biografie des sozialdemokratischen Politikers Gustav Noske. Sie war so kritisch gehalten, dass einige konservative Historiker sich (vergeblich) bemühten, ihre Veröffentlichung zu verhindern. Der vorliegende Band enthält wissenschaftliche Aufsätze und Vorträge von Wette. Der älteste Beitrag stammt aus dem Jahr 1999, die neuesten wurden in den letzten Jahren veröffentlicht.

Das erste Hauptkapitel gilt dem Ersten Weltkrieg. Wette gehörte 2013 zu den ersten deutschen Historikern, die gegen die Thesen des australischen Historikers Christopher Clark Front machten. Clark hatte in seinem Buch «Die Schlafwandler» behauptet, die Regierungen aller beteiligten Mächte seien 1914 in gleicher Weise am Ausbruch des Ersten Weltkrieges schuld gewesen. Dabei hatte der Hamburger Historiker Fritz Fischer bereits in den 1960er Jahren nachgewiesen, dass die deutsche Reichsregierung die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch trug. Clark und andere Autoren, etwa der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (Humboldt-Universität zu Berlin) und der Militärhistoriker Sönke Neitzel ( Universität Potsdam), kritisieren Fischer, um die deutsche Reichsregierung zu entlasten. Wette betont völlig zu Recht, dass deren Verlautbarungen hinsichtlich der Kriegsschuldfrage nichts an der Richtigkeit der Erkenntnisse von Fischer ändern können.

Das zweite Kapitel ist den Jahren der Weimarer Republik gewidmet. In dieser Zeit forderten Pazifisten wie Friedrich Wilhelm Foerster und Albert Einstein eine Umkehr zu einer aktiven Friedenspolitik. Das militaristische Erbe wirkte jedoch weiter, und dessen Akteure gewannen schließlich die Oberhand. Wette befasst sich anschließend mit «Kriegslügen». Meinungsumfragen zeigen, dass im Vierteljahrhundert seit 1990 drei Viertel bis vier Fünftel der Deutschen durchgängig eine Politik des Militärinterventionismus abgelehnt haben. Gleichwohl nahm Deutschland 1999 am völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen Serbien teil. Mit der abwegigen Behauptung, im Kosovo drohe ein «Auschwitz», trug Außenminister Joschka Fischer maßgeblich dazu bei, den Widerstand der deutschen Öffentlichkeit gegen den Krieg zu überwinden.

Ein spezielles Kapitel gilt den Jahren 1945 bis 1989. In dieser Zeit haben die Regierenden der BRD militärische Zurückhaltung geübt, was «keineswegs nur dem freien Willen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland entsprang». Wette nennt drei Gründe für diese Zurückhaltung: die «historischen Erfahrungen mit den desaströsen beiden Weltkriegen», die eingeschränkte Souveränität des westdeutschen Teilstaats und die «Einsicht in das Gefahrenpotenzial eines Atomkrieges. In einer Anmerkung stellt der Autor die bedenkenswerte Frage, »ob die jahrzehntelange Friedenspropaganda der DDR-Führung (…) gegebenenfalls zu einer spezifischen Friedfertigkeit in der DDR geführt« habe. Das sei »noch nicht hinreichend erforscht«.

Das letzte und fünfte Kapitel, das der Berliner Republik gewidmet ist, fragt: »Verliert die zentrale Lehre ›Nie wieder Krieg!‹ ihre Verbindlichkeit?« Wette plädiert dafür, militärische Zurückhaltung zu üben. Er verweist darauf, dass die große Mehrheit der Deutschen friedlich gesinnt ist, konstatiert aber »auch einen beängstigenden bellizistischen Diskurs in Teilen der Meinungseliten«.

Das Buch, das zudem zahlreiche Quellentexte und mehr als 500 Abbildungen enthält, lädt den Leser zu einer neuen Sicht auf die deutsche Geschichte und Gegenwart ein.

Wolfram Wette: Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914. Donat. 640 S., geb., 24,80 €.