Mit Lenin und LSD in die Illegalität

Weshalb sich Christof Wackernagel für die RAF und gegen Hollywood entschied. Von Karlen Vesper

Schon der dritte Satz überrascht, erklärt sich aber in der Folge: »Die RAF - als solche - hat es im Übrigen nie gegeben. Die RAF - das war ihre Besonderheit, ihre Stärke wie ihre Schwäche - war ein Zusammenschluss von Individuen, in dem jedes seine eigene Vorstellung von der Idee der RAF hatte.« Deshalb könne auch jedes Mitglied nur für sich sprechen. Christof Wackernagel hat dies schon des Öfteren getan, in Interviews, Talkshows sowie im Dokumentarfilm »Der Weiße mit dem Schwarzbrot« über seine zehn Jahre in Bamako, der Hauptstadt von Mali, wo er eine Vollkornbäckerei zu gründen versuchte. Das Unternehmen scheiterte. Wie einige Träume zuvor.

Warum hat sich Wackernagel für die RAF statt für Hollywood entschieden, wie konnte aus dem deutschen James Dean ein Untergrundkämpfer werden? Weil er einer Utopie anhing, die sich schauspielerisch nicht herbeizaubern ließ. Der 1951 in Ulm als Sohn eines Theaterintendanten und einer Schauspielerin Geborene hatte schon in zehn Filmen mitgespielt, ein gefeierter junger Held, als er in die militante Szene abtauchte.

Seine episodischen Erinnerungen, die er explizit nicht als eine Autobiografie verstanden wissen will, beginnen mit der Verhaftung am 10. November 1977 in Amsterdam. Er war da nicht mal ein Jahr dabei, Gert Schneider, »der andere Neue, gerade mal eine Woche länger als ich«. Mit ihm wollte er Morphium für den vermeintlich krebskranken »Charly« besorgen, dessen Klarname Peter-Jürgen Boock war und der - so Wackernagel in einer Fußnote - die Gruppe für seine Drogenabhängigkeit funktionalisierte. Wackermanns Pistole klemmte, Schneiders Handgranate explodierte, als beide auf offener Straße überwältigt wurden. Im Rückblick glaubt Wackernagel einen »merkwürdigen Geruch« kurz zuvor in seiner Wohnung wahrgenommen zu haben, Angstschweiß der in seiner Abwesenheit eine Durchsuchung vornehmenden Polizisten, denen zwei Wochen zuvor ein Kollege bei einer »Konfrontation« erschossen worden war. Wackernagels Fazit: »Ich hätte nicht die Fenster aufreißen, sondern das Weite suchen sollen.« Das hätte ihm vielleicht den Knast erspart, ihn aber womöglich mit größerer Schuld beladen, die ihn heute reuen würde.

Der Autor wählte statt blumiger Überschriften Jahreszahlen als Titel für die Kapitel. Er durchschreitet sein Leben chronologisch. Ab 1967 berichtet er ausführlicher, es wird spannender, dramatischer als in den Abschnitten über eine wohlbehütete Kindheit in frommem Elternhaus. Am 22. Mai 1967 brennt ein Kaufhaus in Brüssel, Fanal gegen Vietnamkrieg, am 2. Juni - der junge Wackernagel sitzt gerade über Mathehausaufgaben - wird in Berlin Benno Ohnesorg erschossen. Am 2. April 1968 brennen auch in Frankfurt/Main zwei Kaufhäuser, es folgt am 11. April das Attentat auf Rudi Dutschke und am 11. Mai - da ist Wackernagel schon bei Lenin und LSD - der Sternmarsch auf Bonn mit einer Enttäuschung: »Wo waren die Millionen geblieben? Ich wusste, spürte: Es ist aus. Das war das Ende. In Deutschland würde es keine Revolution geben.«

Neben und zwischen seinen ersten Rollen, die ihn - um nach Westberlin zu gelangen - auch »stundenlange Holperfahrt durch die DDR« bescheren, liest und diskutiert er viel, u. a. mit einem Verehrer seiner schönen Schwester, der ihn belehrt, dass »die zumindest moralisch und menschlich wahren Kriminellen die Chefs der Autoindustrie, die Chefs der Banken, die Chefs der Nahrungsmittelindustrie und so weiter und so fort« sind. Wackernagel verabschiedet sich brieflich von den Eltern, um fürderhin seine eigenen Wege zu gehen, lebt in einer WG, engagiert sich für die Rote Hilfe und gegen die Isolationshaft und ist dank des verehrten Anwalts Klaus Croissant Zeuge des Stammheim-Prozesses. Wackernagel verknallt sich in Brigitte Mohnhaupt: »Sie war einmal mehr ein lebender Beweis meiner These, dass die RAF in erster Linie eine Frauengruppe war: messerscharf analysierende, knallharte, wunderschöne, erotische Frauen - die Frauen der Zukunft, hier war der Anspruch, ›Fokus der neuen Gesellschaft‹ zu sein, bereits verwirklicht.«

1980 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 15 Jahre Haft verurteilt, kam Wackernagel 1987 unter Auflagen frei. Claus Peymann holte ihn auf die Bühne, und bald filmt er wieder. Wackernagel lehnt heute »Gegengewalt« ab. Warum aber auch »Gegenmacht«? Ist für ihn die Gesellschaft doch nach wie vor ungerecht. Der Moloch von System frisst und würgt weiterhin alles in sich hinein, was an Neuem und Gutem entsteht, um es dann unverdaut und ins Gegenteil verkehrt auszuspucken.

Das im Plauderton verfasste, sich wie ein historischer Roman lesende Buch, das »denen, die diese Zeit nicht überlebt haben«, gewidmete ist, holt den Geist einer nur scheinbar vergangenen Vergangenheit zurück.

Christof Wackernagel: RAF oder Hollywood. Tagebuch einer gescheiterten Utopie. Zu Klampen. 355 S., geb., 22 €.

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